Drama | Belgien/Frankreich/Schweiz 2008 | 97 Minuten

Regie: Ursula Meier

Schlaglicht auf eine Westschweizer Familie, deren Mitglieder sich am Rande einer noch nicht eröffneten Autobahn ein Refugium geschaffen haben und nach deren Inbetriebnahme in die zivilisatorische Enge getrieben werden. Nur die Mutter weist am Ende den Weg in eine befreitere Zukunft. Der symbolbeladene Film spielt geschickt Natürlichkeit, selbst gewählte Isolation und Zivilisationsdruck gegeneinander aus und überzeugt als Zustandsbeschreibung einer desorientierten Gesellschaft. Getragen von hervorragenden Darstellern, verdichtet er sich zur extremen Versuchsanordnung über den Unterschied zwischen Individualität und stupiden Konventionen der modernen Gesellschaft. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
HOME
Produktionsland
Belgien/Frankreich/Schweiz
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Need/Archipel 35/Box Prod.
Regie
Ursula Meier
Buch
Ursula Meier · Antoine Jaccoud · Raphaëlle Valbrune
Kamera
Agnès Godard
Schnitt
Susana Rossberg
Darsteller
Isabelle Huppert (Marthe) · Olivier Gourmet (Michel) · Adélaïde Leroux (Judith) · Madeleine Budd (Marion) · Kacey Mottet Klein (Julien)
Länge
97 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama

Heimkino

Verleih DVD
Arsenal (16:9, 1.85:1, DD5.1 frz./dt.)
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Diskussion
Es war einmal eine Familie, die lebte an einem verlassenen Stück Autobahn, bis eines Tages – die Autobahn in Betrieb genommen wurde. So beginnt der erste Spielfilm der Westschweizer Regisseurin Ursula Meier. Als Sarah Palin das Scheitern ihrer eigenen Familienmoral mit „no family is perfect“ eingestand, flogen ihr die amerikanischen Herzen nur so zu. „Home“ hat dieses Charme-Potenzial nicht: Die Familie lebt in selbst gewählter Isolation am Rande einer noch nicht in Betrieb genommenen Autobahn und bangt seit zehn Jahren um den Verlust ihrer relativen Freiheit, der neunjährige Sohn, ein lebhaftes Kind, das von den Ereignissen eingeholt werden wird, wird von den liebevoll-antizivilisatorisch erziehenden Eltern wie ein Augapfel gehütet, die sich selbst in ihrer Außenseiterrolle wohl zu fühlen scheinen. Bei der ältesten Tochter, einer herum lungernden Kettenraucherin, scheint hingegen Hopfen und Malz verloren, während die pubertierende Tochter sich als Mathematikgenie und Statistik-Freak outet. Herzlich willkommen in einer proletarisch-kafkaesken Familie, die irgendwie an Figuren des italienischen Regie-enfant-terribles Marco Ferreri erinnert. Gefällige Identifikation mit den Charakteren darf man bei „Home“ nicht erwarten; der Film ist dezidiert eine lustvoll-sperrige Art-House-Produktion. Befremdlich an seiner Ästhetik ist vor allem der Mangel an kultureller Anschlussfähigkeit, die eine antizivilisatorische Haltung transportiert – wilde Kinder in einer weitgehend domestizierten Umgebung, die sich dem eigenen Leben zunächst ohne Rücksicht auf Verluste hingeben, bis sie erkennen müssen, dass ein Leben im gesellschaftlichen Vakuum auf Dauer unmöglich ist, und ihr Weltbild durch die Eröffnung der Autobahn völlig aus den Fugen gerät. Eine offenherzig erzählte Geschichte mit hervorragenden Darstellern (Isabelle Huppert und Olivier Gourmet als antiautoritäre Eltern), die eine fragwürdige Utopie abseits jeder gesellschaftlichen Normen beschreibt. Dass Menschen auf einmal fünf Meter neben einer viel befahrenen Autobahn wohnen müssen, ist schon furchtbar genug; völlig absurd ist die Idee, dass sie freiwillig dort wohnen bleiben. Doch es ist ausgerechnet die neurotische Mutter, die auf dem Verbleiben in diesem Paradies beharrt, die ihren beengten Freiraum (fast) bis zuletzt verteidigt. Warum stellen sie ihre Plastikmöbel nicht einfach woanders auf? Diese Frage birgt die dramaturgische Logik des Films: Jeder Charakter aktiviert sein eigenes neurotisches Potenzial, um auf die Situation zu antworten, bis sie kollektiv aufgeben und Papa alle Fenster und Türen zumauert. „Home“ ist ein Road Movie „à l’inverse“: Man ist unruhig, aber bewegt sich nirgendwo hin. Stress und überfallartige Bedrohungen, die wie eine Autobahn unser Leben auseinander reißen, sind heute omnipräsent. „Home“ ist jedoch laut Regisseurin auch eine Parabel über die Schweiz und ihre Beziehung zu einer sich globalisierenden Außenwelt: Eigentlich nette, anständige Menschen bestehen auf ihrer Isolation und richten sich damit psychisch zugrunde. Gut, dass Isabelle Huppert mit letzter Kraft die zugemauerten Türen und Fenster aufhämmert und die Familie vor dem Erstickungstod bewahrt; somit ihr und der Eidgenossenschaft den Weg in die Freiheit bahnt! Ein symbolischer Akt, der auch die Zuschauer einbezieht. Denn die haben anderthalb Stunden Filmzitate und innovative Tonarbeit hinter sich, die schon den Nerv rauben kann: der rhythmisierte Krach der Autos; Protagonisten, die sich lautstark artikulieren, dazu die paranoide Stimme eines eigens für den Film produzierten „Radio-Autoroute“-Programms. Daher ist der bewegendste Moment des Films logischerweise der, der sich in Totenstille entfaltet, als der kleine Julien dem Druck nicht mehr gewachsen ist und quer über die stark befahrene Autobahn in die Freiheit rennt, die einmal seine Heimat war. „Home“ stellt einen der Höhepunkte des Schweizer Filmschaffens des vergangenen Jahres dar und bietet ein weites Interpretationsfeld – nicht nur die vielen Filmzitate betreffend.
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