Kaum öffne ich die Augen

Drama | Tunesien/Frankreich 2015 | 106 Minuten

Regie: Leyla Bouzid

Eine junge Tunesierin will nicht Medizin studieren, wie ihre Familie es ihr nahelegt, sondern Musikwissenschaft. Mit ihrer Band rockt sie sich durch das Nachtleben von Tunis und fällt mit regimekritischen Texten auf. Darin spiegelt sich die Aufbruchstimmung einer Jugend, die sich im Arabischen Frühling wenig später gegen das repressive Regime erhob. Noch aber hat die Geheimpolizei das Sagen. Verrat und Gewalt prägen die tunesische Gesellschaft, weshalb die Konzerte dramatische Konsequenzen nach sich ziehen. Das Spielfilmdebüt zeichnet das kraftvolle Porträt einer Gesellschaft im Umbruch, wobei sich dokumentarische Außenaufnahmen und intensiv gespielte Konfliktsituationen gegenseitig ergänzen. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
À PEINE J'OUVRE LES YEUX
Produktionsland
Tunesien/Frankreich
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Blue Monday Prod./Propaganda Prod./Hélicotronc
Regie
Leyla Bouzid
Buch
Leyla Bouzid · Marie-Sophie Chambon
Kamera
Sébastien Goepfert
Musik
Khyam Allami
Schnitt
Lilian Corbeille
Darsteller
Baya Medhaffer (Farah) · Ghalia Benali (Hayet) · Montassar Ayari (Borhène) · Aymen Omrani (Ali) · Lassaad Jamoussi (Mahmoud)
Länge
106 Minuten
Kinostart
06.10.2016
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Eine junge Tunesierin begehrt gegen die verkrusteten Strukturen der Gesellschaft auf.

Diskussion
Tunis im Sommer 2010. Farah hat gerade die Schule mit Bestnoten abgeschlossen. Ihre Familie sieht sie bereits Medizin studieren, um sich mit einem angesehenen Beruf eine Zukunft in dem diktatorisch regierten Land zu sichern. Doch Farah hat etwas völlig anderes im Sinn. Sie will frei sein, Spaß haben, sich verlieben und machen, was sie will. Das Glück scheint zunächst auf ihrer Seite: Bildschön und mit einer Gänsehaut-Stimme ausgestattet, bringt sie mit ihrer Band nicht nur das Publikum zum Kochen, sondern auch das Herz des Bandleaders Borhène. Mit Herzblut und ungestümer Authentizität von der tunesischen Sängerin Baya Medhaffer gespielt, stürzt sich Farah furchtlos ins Liebes- und Partyleben. Bei ihren Auftritten singt sie mehr und mehr Lieder, die das politische Establishment und das Leben unter dem repressiven Regime an den Pranger stellen. Farahs Mutter Hayet indes will das unangepasste Verhalten ihrer Tochter nicht länger tolerieren. Früher galt sie selbst als Rebellin, weshalb sie weiß, was es bedeutet, wenn man ins Visier der Geheimpolizei gerät. Nicht umsonst wurde Farahs regierungskritischer Vater vor Jahren mit einer Versetzung nach Gafsa ins tunesische Hinterland ruhiggestellt. Seitdem kann er nur noch gelegentlich zu Hause bei seiner Frau und Tochter sein. Farah aber empfindet die Einmischung der Mutter als Freiheitsbeschneidung und ignoriert alle guten Ratschläge und Verbote. In ihrem ersten Spielfilm setzt die Tunesierin Leyla Bouzid dem jugendlichen Tatendrang, Mut und Lebenshunger einer Generation ein Denkmal, die sich wenig später, im Winter 2010/2011, gegen die Regierung des langjährigen Präsidenten Ben Ali erhob und damit den Beginn des Arabischen Frühlings einläutete. Was es für den Einzelnen bedeutet, in einer Atmosphäre der Unterdrückung und permanenten Bedrohung durch den Staatsapparat aufzuwachsen, zeigt der Film exemplarisch anhand der energischen Farah – einer Figur, die kein Extrem, sondern im Grunde ein Mädchen mit normalen Wünschen und Träumen verkörpert. Denn Farah und ihre Band wollen bei ihren Konzerten nicht nur die üblichen tunesischen Klassiker reproduzieren. Sie wollen eigene Ideen und Stücke vermitteln. So ist ihr musikalischer Weg Ausdruck der persönlichen Entwicklung. Der Funke ihrer zunehmend aufwühlenden Musik springt in den vielen dynamisch gedrehten Konzertszenen auf das Publikum über. Fließend gehen traditionelle Rhythmen und Lieder in rebellische Eigenkompositionen über, die vom irakischen Musiker Khyam Allami stammen. Die Musik wird experimenteller und aufpeitschender. Die Texte werden verfänglicher, die Auftritte wilder, bis die Polizei eingreift. Plötzlich bieten Mut, Freundschaft und Loyalität keinen Schutz mehr. Jeder ist auf sich allein gestellt. „Coming of Age“, Generationenkonflikt, Freiheitsstreben versus Einengung: Bouzid, die an der Pariser Filmhochschule Fémis Regie studierte, nutzt die altbekannten Motive für ihr Gesellschaftsporträt. Obwohl der Plot vorhersehbar ist, gelingt ihr dennoch ein kraftvoller Film. Die Fokussierung auf ein mehr oder minder „typisches“ Teenager-Schicksal im Mittelschichtsmilieu macht klar, dass staatliche Repressalien jeden treffen, und ein von Überwachung geprägter Staat die Beziehungen der Menschen nachhaltig zersetzt. Visuell findet dieser allgegenwärtige Kontrollblick in den Videoaufnahmen des Bandmanagers eine Entsprechung, deren verschwommene Qualität den Bilderfluss mit kurzen, kaum wahrnehmbaren Irritationen stört. Quasi dokumentarisch gedrehte Szenen von Fahrten in Vorortzügen, auf den Straßen oder vom Nachtleben in Tunis, in denen reale Passagiere, Passanten und argwöhnisch äugende Barbesucher den Hintergrund bilden, erden die Fiktion in einer von Regeln und Misstrauen geprägten Wirklichkeit, in der es verschiedene Seiten gibt. Zum Beispiel die der Arbeiter in den Phosphat-Minen von Gafsa. Als Farahs Vater ihnen nicht den versprochenen Bonus aushändigen kann, begehren sie wütend auf. Sie spielen wie viele andere im Film sich selbst. Ihr Auftritt erweist dem für seine Streik- und Protestbewegungen bekannten Ort Reverenz, der als „Keimzelle“ der tunesischen Revolution 2010/2011 gilt. Auf der anderen Seite öffnet der Film den Blick ins Private, ins Innenleben einer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung. Die Reifung, die Farah schmerzlich durchlebt, hat Hayet lange hinter sich. Äußerst einfühlsam gespielt von der tunesischen Sängerin Ghalia Benali, muss die Mutter trotz aller Rettungsversuche hilflos mitansehen, wie sich die Geschichte wiederholt. „Kaum öffne ich die Augen“ ist auch ein Film „gegen den Gedächtnisschwund“ über ein Kapitel der tunesischen Landesgeschichte. Leyla Bouzids Vater, der Regisseur Nouri Bouzid, setzte sich in seinem berühmtesten Film „Der Mann aus Asche“ (1986) ebenfalls kritisch mit den Strukturen und Traditionen des Landes auseinander. Jetzt findet eine Wiederholung im doppelten Sinn statt. Wie der Vater nutzt auch die Tochter filmische Fiktionalisierung, um Politik und ihre Auswirkungen nachfühlbar zu machen. Und wie vor 30 Jahren besteht auch heute noch eine Notwendigkeit dazu.
Kommentar verfassen

Kommentieren