- | Iran/Frankreich 1997 | 85 Minuten

Regie: Samira Makhmalbaf

Ein älterer Bettler und seine blinde Frau halten ihre beiden elfjährigen Töchter seit der Geburt eingesperrt. Als sich eine Sozialarbeiterin des Falls annimmt und die Kinder auf die Straße lässt, gewöhnen sich die Kinder schnell und spielerisch an die neue Freiheit und bringen auch die Mutter dazu, sich nicht mit ihrer Hilflosigkeit abzufinden. Nach einer wahren Begebenheit einfühlsam umgesetzter, poetisch-märchenhafter Debütfilm über eine ungewöhnliche Sozialisation im Iran. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
SIB | LA POMME
Produktionsland
Iran/Frankreich
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Makhmalbaf Productions/MK2
Regie
Samira Makhmalbaf
Buch
Mohsen Makhmalbaf
Kamera
Ebrahim Ghafori · Mohamad Ahmadi
Schnitt
Mohsen Makhmalbaf
Darsteller
Massoumeh Naderi (Massoumeh) · Zahra Naderi (Zahra) · Ghorbanali Naderi (Vater) · Azizeh Mohamadi (Sozialarbeiterin) · Zahra Saghrisaz (Nachbarin)
Länge
85 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
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Diskussion
„Der Apfel“ bricht mit der typisch iranischen Haltung, Geschichten, die in der Gegenwart spielen, wie traurig-poetische Märchen zu erzählen. Laut und energisch sind die Bürger, die mit einer Petition gegen die Nachbarfamilie ins Sozialamt kommen, die ihre Zwillinge, zwei Mädchen, seit elf Jahren zu Hause eingesperrt hält und nicht zur Schule schickt. Wie in einem Sozialreport mit der Videokamera gefilmt, werden die Zuschauer mit dem Haus in einem Armenviertel Teherans vertraut gemacht: mit den schüchternen Mädchen und seinen Eltern, der blinden Mutter, die wie eine Mumie in ihre Gewänder gehüllt ist, und dem alten, ungebildeten Vater, der arbeitslos ist und sich als Bettler über Wasser zu halten versucht. Seit ihrer Geburt hält er die Kinder eingesperrt. Nicht aus Bosheit, sondern weil er sich für sie allein verantwortlich fühlt und sie nicht verlieren will. „Meine Töchter sind wie Blumen, man darf sie nicht der Sonne aussetzen, sonst verwelken sie“, sagt er. Natürlich nimmt sich die Fürsorge der verwahrlosten und vernachlässigten Kinder an, aber als die unglücklichen Eltern versprechen, sich zu bessern, bekommen die Mädchen zurück – und alles bleibt, wie war.

Als sachlicher Beobachter folgt die Kamera nun dem Tagesablauf der Familie Naderi, nicht mehr im Dokumentarfilmduktus, sondern mit poetisch-schönen einfachen Bildern und Symbolen. Geduldig beobachtet sie in Halbtotalen, wie ungelenk sich die Mädchen in dem von Mauern umgebenen Hof bewegen. Sie reden kaum, lächeln, gestikulieren viel, aber wirken selbst dann nicht unglücklich, wenn sie durch das vergitterte Fenster eine Blume im Hof gießen. Warum auch, sie kennen ja nichts anderes. Die Sozialarbeiterin ist bei ihrem Kontrollbesuch entsetzt, dass die Kinder wieder eingesperrt sind. Als der Vater mit dem Schlüssel heimkommt, lässt sie die Kinder zum Spielen auf die Straße, sperrt den Vater ein und gibt ihm eine Säge: Wenn er aus dem Haus will, soll er das Gitter an der Tür durchsägen. Hand in Hand wie im Slapstick-Film torkeln die Mädchen durch ihre erlangte Freiheit. Staunend und hilflos sehen sie an den Hauswänden der leeren Gasse hoch, machen erste Erfahrungen mit der Außenwelt und verhalten sich wie Kleinkinder, die alles haben wollen, was sie sehen. So stehlen sie einem Jungen, der Eis verkauft, kurzerhand zwei Portionen – dass dies Unrecht ist, wissen sie ja nicht. Sie greifen nach einem Apfel, der vor ihrer Nase baumelt. Dann erst sehen sie, dass er an einer Schnur an einem Stock hängt, den ein Junge oben aus dem Fenster hält. Sie treffen zwei andere Mädchen, mit denen sie spielen, später einen alten Uhrenverkäufer. Irgendwann kehren sie zurück, woraufhin der mittlerweile befreite Vater in die Stadt geht, um den Mädchen eine Uhr zu kaufen. Schließlich wagt sich sogar die blinde Mutter – genauso unsicher wie vorher ihre Kinder – auf die Straße. Auch sie grapscht nach dem Apfel an dem Stock.

Man sieht es dieser einfühlsam und wortkarg inszenierten (nur gelegentlich mit traditioneller iranischer Musik unterlegten) Geschichte einer Sozialisation nicht unbedingt an, dass sie auf einer wahren Gegebenheit beruht. Mehr noch: Die Mädchen und der Vater spielen sich selbst, ebenso die Nachbarn. Dennoch ist nur wenig improvisiert, denn die überzeugenden (weil damals wirklich noch nicht sozialisierten) Laiendarsteller folgen dem Drehbuch von Mohsen Makhmalbaf, einem der wichtigsten iranischen Filmemacher. Mag sein, dass er seiner Tochter, die mit „Der Apfel“ als 18-Jährige (nach einem Kurz- und einem Dokumentarfilm) ihren ersten Spielfilm drehte, auch noch weitere Hilfestellung gegeben hat, denn für ein Debüt ist ihr Film fast schon zu perfekt. Wie so oft im iranischen Kino werden wichtige Fragen nicht gestellt: etwa die nach dem Denunziantentum der Nachbarn oder nach einer Gesellschaft, die sich nur unzureichend um die Armen und ihre Probleme kümmert. Stattdessen stellt der Film die Probleme kommentarlos dar, was Zuschauer mehr provoziert und fordert als eine direkte Anklage. Die vielen Großaufnahmen aber, der zärtliche Umgang der Mädchen miteinander, die Enge der Handlungsorte und der betont auf die Kinder und die beiden Frauen gerichtete Kamerablick verraten bereits die Handschrift der jungen engagierten Regisseurin, die – auf andere Weise als ihre Filmfiguren – behutsam mit den Traditionen ihres Landes und ihrer Herkunft kämpft.
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