Das Netz - Unabomber, LSD und Internet

Dokumentarfilm | Deutschland 2004 | 121 Minuten

Regie: Lutz Dammbeck

Komplexe filmische Recherche über die Zusammenhänge von Computern, Geheimdiensten und Subkultur. Ausgehend von verwandten Begrifflichkeiten, untersucht der dokumentarische Film frühe Wechselbeziehungen zwischen kulturellen und politischen Sphären, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben. Im Mittelpunkt steht der Fall des Mathematikprofessors Theodore John Kaczynski, der 1996 als mutmaßlicher "Unabomber" verhaftet wurde. In seiner Figur verschmelzen Widersprüche aus Anpassung und Verweigerung, ohne sich aufzulösen. Dem Film und seinem Regisseur Lutz Dammbeck geht es nicht um investigative Aufklärung; vielmehr setzt Dammbeck sich selbst als Künstler zu den aufgeworfenen Konstellationen ins Verhältnis und verortet die Fragestellungen autobiografisch. - Sehenswert.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Lutz Dammbeck Filmprod./SWR
Regie
Lutz Dammbeck
Buch
Lutz Dammbeck
Kamera
Thomas Plenert · István Imreh · James Carman
Musik
Jörg Udo Lensing
Schnitt
Margot Neubert
Länge
121 Minuten
Kinostart
13.01.2005
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Im Jahr 1950 legten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer mit „Die autoritäre Persönlichkeit“ eine Studie über die Anfälligkeit normaler Bürger für totalitäre Bewegungen vor. Vor ihrer Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1956 reagierten die beiden führenden Köpfe der „Frankfurter Schule“ damit auf den Schock des Nationalsozialismus und seiner katastrophalen Folgen für Europa und die Welt. Streng empirisch fundiert, auf der Basis von Tausenden von Interviews und entsprechend reichhaltige Datenmengen, sollte die Untersuchung nach ihrer Auswertung durch die damals modernsten Rechensysteme einen seismografischen Schlüssel für kritische Zustände innerhalb moderner Zivilgesellschaften bilden. Als Indikator dieser Krisen wurde ein so genannter F-Faktor entwickelt – wobei das „F“ als Kürzel für Faschismus steht. Wächst also in einer Gesellschaft dieser F-Faktor bedrohlich an, so besteht die Gefahr, dass die vielen Quantitäten in eine neue Qualität umschlagen – und einer solchen Entwicklung musste um jeden Preis Einhalt geboten werden. Bereits 1946 hatten sich führende Kybernetiker, Gestaltpsychologen, Mathematiker und andere Wissenschaftler in der „Macy-Konferenz“ zusammen getan, um in einer Art offener Denkfabrik regelmäßig über Prognosen massenpsychologisch-dynamischer Tendenzen zu debattieren. Zugegen waren dabei auch hohe CIA-Beamte, die das Wissen um diese Trends als wichtige Waffe im Kalten Krieg einstuften. Aus dem Kreis der „Macy-Konferenz“ formulierte sich die Idee, mittels empirisch erarbeiteter Werkzeuge wie des F-Faktors künftig Diktaturen auszuschließen. Der Psychologe Kurt Lewin schlug vor, die bestehenden, sich als untauglich erwiesenen Verhältnisse zu revidieren und durch neue zu ersetzen. Dieses Ziel wollte man durch immer schnellere Rechenmaschinen, kybernetische Modellentwürfe und synthetische Substanzen erlangen. Mit anderen Worten: Es wurde die Schaffung des perfekten antiautoritären Menschen mit Hilfe modernster wissenschaftlicher Erkenntnisse und Technologien angestrebt – totale Harmonie durch absolute Kontrolle. Die historisch verbürgte, zunächst kurios erscheinende Verbindung von Sozialforschung, Kybernetik, CIA und LSD ist nur eine von vielen Facetten, die Lutz Dammbeck in seiner jüngsten Dokumentation zu Tage fördert und als mediales Kaleidoskop vor den Zuschauern ausbreitet. Oder handelt es sich doch um mehr? Am Beginn von „Das Netz“ steht die naiv formulierte Neugierde des Filmemachers auf Begrifflichkeiten wie Multimedialität, Virtualität oder Grenzüberschreitung, mit denen er sich nach Anschaffung eines neuen Rechners zunehmend konfrontiert sah. War ihm bislang der Computer lediglich als praktisches Hilfsmittel erschienen, ergaben sich nach spontanen Recherchen erste Verbindungen zu Kategorien, die ihm als Bildendem Künstler über viele Jahre hinweg wichtig gewesen waren. Offenbar wurzelten sowohl gewisse Tendenzen der künstlerischen Moderne als auch die Ursprünge des „Cyberspace“ in verwandten, zumindest verschränkten Milieus. Bald ließ sich diese Vermutung durch zahlreiche personelle Verknüpfungen belegen. Ausgehend vom New Yorker Verleger John Brockman oder dem Autor des legendären „Whole Earth Catalog“ und Erfinder des Begriffs „personal computer“, Steward Brand, spannen sich bei den Recherchen enge Wechselbeziehungen zwischen Avantgarde, Drogen und Rockmusik auf der einen, Hochtechnologie, Militärforschung und Geheimdiensten auf der anderen Seite. Mehr und mehr verwischen sich die Grenzen zwischen den auf den ersten Blick wenig verwandten Sphären. Als personifizierter, zugespitzter Widerspruch kristallisiert sich eine Figur heraus: Theodore („Ted“) John Kaczynski, der im April 1996 vom FBI als mutmaßlicher „Unabomber“ verhaftet wurde, ein einzelgängerischer Terrorist, der zwischen 1978 und 1995 zahlreiche Flughäfen, Universitäten und Forschungsinstitute mit einer Serie von Bombenanschlägen überzogen haben soll, bei denen drei Menschen getötet und mehr als 20 verletzt wurden. Nach einem Mathematikstudium in Harvard absolviert Kaczynski 1969 in Michigan und tritt eine Professur in Berkeley an, die er schnell wieder kündigt. 1959 ist er nachweislich als „guinea pig“ (Versuchskaninchen) in Experimente von Professor Henry A. Murray eingebunden, einem maßgeblichen Initiator der „Macy-Konferenzen“. Später entfremdet er sich den Naturwissenschaften. Mit Beginn der 1970er-Jahre zieht er sich aus der US-amerikanischen Normalität zurück, lebt in einer Hütte ohne Wasser und Strom in Montana. Diese Hütte ist Henry David Thoreaus (1817–62) in „Walden oder Leben in den Wäldern“ formuliertem Ideal nachempfunden und wurde in Steward Brands Katalog zum Nachbau empfohlen. In dieser weltabgeschiedenen Klause verfasst er sein 230 Thesen umfassendes, zivilisationskritisches Manifest „Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft“ (das im Buch zum Film erstmals in autorisierter Form vorliegt). Unabhängig von der Frage, ob Kaczynski der gesuchte „Unabomber“ ist oder nicht, personifiziert er ein exemplarisches Aussteigertum. Ein junger, hoch begabter Mensch wird zum hoffnungsvollen Akademiker, der ab einem bestimmten Punkt die weitere Gefolgschaft verweigert und ein dem Fortschrittsglauben absolut konträres Lebensmodell ansteuert. In ihm verschmelzen die Widersprüche aus Anpassung und Verweigerung, ohne dass sie sich aufzulösen vermögen. Ist Kaczynski nun ein tragisch scheiternder Thoreau der Neuzeit oder nur ein verwirrter Krimineller? „Was befindet sich hinter den Computern?“, fragt William S. Burroughs in „The Western Lands“ (1987) lange vor der digitalen Euphorie, und resümiert nüchtern: „Fernsteuerung, natürlich.“ Man muss kein Anhänger von Verschwörungstheorien sein, um die immense wirtschaftliche Potenz, die an die millionenfache Installation des heute als unverzichtbar erscheinenden Personal Computers gekoppelt ist, mit nüchternen Machtinteressen in Verbindung zu bringen. Ohne Zweifel stellt der Siegeszug des PCs und seiner Begleiterscheinungen neben dem Zerfall der weltpolitischen Blöcke zwischen Ost und West die einschneidendste Umwälzung der letzten 20 Jahre dar. Mutmaßungen darüber, ob die mediale Öffentlichkeit durch den absolut freien „flow“ an Informationen demokratischer und die Welt als Ganzes dadurch besser geworden ist, erscheinen angesichts aktueller Entwicklungen müßig. Lutz Dammbeck (geb. 1948 in Leipzig) geht es nicht um investigative Aufklärung der von ihm aufgeworfenen Fragen. Er arbeitet sich phänomenologisch vor, listet Fakten auf, insistiert auf Widersprüchen; seine Recherche folgt keinem Plan, sondern primär der ihr immanenten Dynamik. Ins Zentrum des Films rückt ein Briefwechsel, den Dammbeck mit Kaczynski über einzelne Punkte seines Manifests führt. Wie in seinen Filmen „Dürers Erben“ (fd 32 228) und „Das Meisterspiel“ (fd 33 657) baut Dammbeck in „Das Netz“ ein Geflecht von Beziehungen auf, die auf den ersten Blick nicht zu vermuten waren. Wichtigster Ansatz ist dabei, dass er sich selbst als Künstler zu den aufgeworfenen Konstellationen ins Verhältnis setzt; mehr noch: den Impetus für die Fragestellungen autobiografisch verortet. Auch mittels dieser Perspektive ist ihm ein höchst komplexer Dokumentarfilm gelungen.
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