Action | Frankreich 2023 | 89 Minuten

Regie: Jérémin Périn

Eine alkoholsüchtige Privatdetektivin und ein Roboter-Polizist werden im Jahr 2200 beauftragt, eine verschwundene Kybernetik-Studentin zu finden. Die Hackerin hat den Code geknackt, der es Androiden erlaubt, sich über die Regeln der Menschen hinwegzusetzen. Bei ihrer Suche kommen sie in der Hauptstadt des Mars einer großen Verschwörung auf die Spur. Der Animationsfilm beginnt in vertrauten Science-Fiction-Bahnen, löst sich jedoch zunehmend von Genre-Standards und präsentiert stattdessen eine offene und kleinteilige Zukunftsvision, in der das Organische eine überraschende Wiederkehr erfährt. Durch die Rückbesinnung auf den Stil franko-belgischer Comics wirkt die Ästhetik des Films unverbraucht. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
MARS EXPRESS
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Everybody on Deck/Je suis bien content/France 3 Cinéma
Regie
Jérémin Périn
Buch
Jérémin Périn · Laurent Sarfati
Musik
Fred Avril · Philippe Monthaye
Schnitt
Lila Desiles · Lolie Thepenier
Länge
89 Minuten
Kinostart
25.04.2024
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Action | Animation | Mystery | Science-Fiction
Externe Links
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Animationsfilm um eine Privatdetektivin, die im Jahr 2200 auf der Suche nach einer verschwundenen Studentin einem Komplott auf die Spur kommt.

Diskussion

Ein Mann versucht sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen, aber er findet keinen Widerstand an seinen Wangen. Er greift in seinen Kopf hinein, der sich als holografische Projektion erweist; seine Finger verwischen das Bild und legen die Leere frei. Eine Diskrepanz zwischen Maschinen-Körper und Menschen-Geist, zwischen Hardware und Software. Gäbe es hier noch Fleisch und Organe, würde man wohl vom Muskelgedächtnis sprechen, von alten Gesten, die in der Gegenwart sinnlos geworden sind. Die Trauer ist echt, die Tränen simuliert, wobei beide Kategorien in diesem Fall wohl schnell an ihre Grenzen stoßen.

Kurzschlüsse im Bekannten

Der Animationsfilm „Mars Express“ von Jérémie Périn zeigt eine Version der Zukunft, die man scheinbar so gut kennt, als wäre sie längst unsere Vergangenheit. Ihre Schrecken und Verheißungen konnten in der Fiktion schon so oft abgewogen werden, dass sie als tatsächliches Szenario geradezu unwahrscheinlich erscheinen. Der Film präsentiert sich als ungeheure Referenzsammlung. Aber genau wie bei dem Roboter-Polizisten Carlos Rivera, der seine mechanische Hand hilflos nach digitalen Tränen ausstreckt, entstehen auch beim Verlöten und Neuprogrammieren vertrauter Thesen, Bilder und Dramaturgien interessante Kurzschlüsse. Die Schönheit einer flackernden Oberfläche, die sich dem Zugriff entzieht.

Die Handlungsmaschine setzt sich aus Ersatzteilen von „Blade Runner“ und anderen Geschichten von Philip K. Dick oder Isaac Asimov zusammen. Mamoru Oshiis „Ghost in the Shell“ und „Patlabor“ klingen an, Moebius verwandelt sich in Katsuhiro Otomo, Verhoevens „Robocop“ und „Total Recall“ treffen auf Comicreihen wie „Heavy Metal“, „Aeon Flux“ und Videospiele wie „Mirror’s Edge“. Im angehenden 23. Jahrhundert ist die Erde Makulatur, und das Herz der Menschheit schlägt auf dem Mars. Die alkoholsüchtige Privatdetektivin Aline Ruby soll eine verschwundene Kybernetik-Studentin suchen. Die ist wohl auf einen Code gestoßen, der es Androiden erlauben würde, sich über die Regeln der Menschen hinwegzusetzen. Natürlich offenbart sich den Detektiven bald eine Verschwörung, die das Zusammenleben von Menschen und Robotern für immer verändern wird.

Nur ein Lebendiges fühlt Mangel

Interessanter als der Plot ist der Stil, denn visuell orientiert sich das Science-Fiction-Abenteuer so unmittelbar an franko-belgischen Comics, dass man nach dem Abspann erfolglos eine „Bande dessinée“-Vorlage sucht. Eine unverbrauchte und trotzdem nostalgische Ästhetik, die dem retrofuturistischen Grundgedanken des Films entspricht. Sind nicht auch die Pop-Künstler des ewigen Hantierens mit Maschinen-Seelen, Maschinen-Erinnerungen und freiem Maschinen-Willen langsam überdrüssig? Gäbe es nicht Folgefragen und Folgefolgefragen?

Manche der vielen Zitate und Verweise von „Mars Express“ sind naheliegend. So besucht Aline Ruby schon früh den Alan-Turing-Campus. Andere sind obskurer, etwa die verschiedenen Bezüge auf die Videospiel-Pionierin Roberta Williams. Ein Uni-Dozent hält Vorträge über Softwares mit Namen wie „Babel+“ und „Hegel 7“, und bei dem weinenden Roboter könnte man durchaus an einen Halbsatz aus der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ (1817) denken: „Nur ein Lebendiges fühlt Mangel […]“. „Mars Express“ ist zweifellos ein Film über eigentümliche Verlusterfahrungen, über Mängelwesen und Mängelwelten.

Einer der originelleren Aspekte des Szenarios ist seine Post-Posthumane-Dimension. Neueste Forschungsergebnisse verdrängen Computer wieder aus bestimmten Feldern; die sogenannten „Organics“ sind leistungsfähiger als jede herkömmliche Maschine. Die Gewebeklumpen schwimmen in Tanks und potenzieren die Leistungsfähigkeit von Silizium. Sie können telepathisch mit Menschen und Robotern kommunizieren. Im Gegensatz zu herkömmlichen Computern besitzen die Organics einen starken Eigengeruch. Das verdrängte Zuviel der Körper kehrt zurück. Die Roboter, die sonst Menschen redundant machen, werden selbst langsam obsolet. Späte Szenen zeigen sogar eine Art Exodus und verleihen der Geschichte einen biblischen Anklang.

Auf einem Kipp-Punkt

Es obwaltet eine dialektische Logik. Auf die Vormacht der Maschinen folgt irgendwann die Vormacht des Organischen, eine wissenschaftlich-rationale Bildwelt wird zuletzt in eine religiös-emotionale überführt. Das sind nicht unbedingt Gegensätze, aber in diesem Fall das ästhetische Spektrum. Das dritte Clarkesche Gesetz waltet und lässt Fortschritt wieder mythisch oder kreatürlich erscheinen. Und der nostalgische Stil von „Mars Express“ ist selbst Teil einer Reaktion im Animationsbereich. Die letzten Jahre waren dort stark von Hybrid- und Mischformen geprägt, die auf die Hegemonie moderner 3D-Technologie reagierten.

Eine große Stärke des Films ist seine Weitläufigkeit. In manchen Szenen schaut man auf die Bilder wie in einen Bienenstock oder einen Termitenhügel. Reizvoll ist auch die Nonchalance, mit der neue Konzepte und Technologien eingeführt werden, in der Regel ohne umständliche Erklärung. Animationskino vermag in seiner Künstlichkeit bemerkenswerte Fremdheitserfahrungen zu generieren. Auch wenn Filme wie René Laloux’ „Der wilde Planet“ oder Serien wie „Scavengers Reign“ von Joseph Bennett und Charles Huettner stiller, abseitiger und konsequenter sind als „Mars Express“, spürt man eine geistige Verwandtschaft. Die Mars-Welt steht auf dem Kipp-Punkt zwischen Techno- und Öko-Dystopie. Sie wird von einem Roboter-Wesen verkörpert, aus dem nach einem Angriff organische Masse quilt. Technologie als zweite Natur, Flora und Fauna als Maschinen.

Die Apokalypse als Offenbarung

Die programmierten Tränen können nicht fortgewischt werden. Bestimmte Naturkonstanten drängen zwischen Stahl und Glas hervor. Und auch vermeintlich überholte Kulturtechniken können sich neu entfalten, wenn sich denn Künstler finden, die sie wieder zum Leben erwecken. „Mars Express“ beginnt als Schlachtfeld der Zitate, doch irgendwann ruhen die Waffen. Selbst die Hauptfiguren entpuppen sich lediglich als Zeugen großer Umbrüche. Die heute so omnipräsente Idee der Apokalypse wird mit ihrer Wortherkunft als „Offenbarung“ oder „Enthüllung“ versöhnt. Chaos weicht Kontemplation und einem verlorenen Blick zu den Sternen.

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