Lebe schon lange hier

Dokumentarfilm | Deutschland 2015 | 98 Minuten

Regie: Sobo Swobodnik

Eine betont unspektakuläre, impressionistische Langzeitbeobachtung des Berliner Großstadtlebens durch den Filmemacher Sobo Swobodnik, der über ein Jahr lang Blicke aus dem Fenster seiner Wohnung am Prenzlauer Berg dokumentiert hat. Ergänzt und unterstützt werden diese Impressionen, die sich mitunter zu kleinen Narrationen verdichten oder diese Verdichtung zumindest suggerieren, durch eine wandlungsfähige und atmosphärische Musik, mal lakonische, mal aperçuhafte Kommentare aus dem Off und schließlich durch Alltagsgeräusche aus der Wohnung wie Radiomeldungen oder Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Guerilla Film Koop
Regie
Sobo Swobodnik
Buch
Sobo Swobodnik
Kamera
Sobo Swobodnik
Musik
Till Mertens
Schnitt
Manuel Stettner
Länge
98 Minuten
Kinostart
24.10.2019
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Impressionistische Langzeitbeobachtung des Berliner Großstadtlebens durch den Filmemacher Sobo Swobodnik, der über ein Jahr lang Blicke aus dem Fenster seiner Wohnung am Prenzlauer Berg dokumentiert hat.

Diskussion

Das Setting ist schon mal ideal. Eine zumeist zugeparkte Straßenkreuzung im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Zehdenicker Straße, Ecke Gormannstraße, Dritter Stock. Hier lebt schon länger der äußerst produktive Filmemacher und Autor Sobo Swobodnik (Der Papst ist kein Jeansboy; 6 Jahre, 7 Monate und 16 Tage – Die Morde des NSU), der über einen Zeitraum eines Jahres Blicke aus dem Fenster riskierte und ab und an auch mit der Kamera dokumentierte. Entstanden ist so eine intelligente, weil betont unspektakuläre und offene Variante des konventionellen Großstadtfilms, der weder inhaltlich noch formal thesenhaft zugespitzt ist.

Der Hinweis auf Walter Ruttmanns Montage-Klassiker Berlin – Sinfonie einer Großstadt, den das Presseheft wagt, ist bestenfalls augenzwinkernd zu verstehen. Swobodnik nähert sich der Großstadt nicht als Flaneur, sondern lässt sie gewissermaßen vor seinem Fenster vorbeiflanieren. Und zwar nicht etwa an einem Hotspot der Stadt, sondern eher an einem Nicht-Ort. So sehen wir Passanten, Radfahrer, Autos, Polizisten, Straßenarbeiter, Handwerker und Paketausfahrer bei der Arbeit. Manchmal wird ein Laden geöffnet, manchmal wieder geschlossen. Eine Gruppe von Kindern zieht vorbei. Tag- und Nachtzeiten wechseln ebenso wie die Jahreszeiten. Linker Hand befindet sich eine Plakatwand, die vom abwechslungsreichen Kulturangebot der Hauptstadt erzählt und die zudem ermöglicht, die Filmbilder zu datieren. Es handelt sich um Aufnahmen aus dem Jahre 2013.

Von der Katze bis zum Rettungshubschrauber

Tauchen einzelne Akteure wie ein mysteriöser älterer Herr mit einer Plastiktüte oder eine Kiez-Katze wiederholt auf, so ergeben sich, unterstützt oder auch initiiert von der ausgesprochen variablen Filmmusik von Till Mertens kleine Narrationen, die dem Zuschauer nachgehen. Das kann durchaus auch ironisch sein, wenn ein Mann mit Sonnenbrille telefonierend die Straße quert und dazu Musik erklingt, die durchaus auch in einen Mafiafilm passte. Oder wenn zwei Straßenarbeiter buchstäblich jedem Rock hinterhergucken. Spektakulärer Höhepunkt ist dann die Landung eines Rettungshubschraubers auf der Kreuzung mitten in der Stadt.

Insbesondere die Katze erscheint in dieser Umgebung eine echte Attraktion. Nicht nur, dass sie – wie der Filmemacher – schon länger in der Gegend lebt und deshalb jeden Winkel und alle Regeln für das Überleben an einer viel befahrenen Kreuzung kennt, die Menschen reagieren auch auf sie. Mitunter werden solche zu Erzählungen verdichteten Episoden durch eine Foto-Funktion, die die Laufbilder in Schnappschüsse verwandelt, noch unterstrichen. Dann wagt sich die Kamera auch aus dem dritten Stock auf die Straße, mischt sich gewissermaßen ins Leben, wird vom Beobachter zum Akteur.

Tonspur mit mehreren Ebenen

Ergänzend zu den Bildern und der Filmmusik gibt es auch noch eine Tonspur mit mehreren Ebenen. Da gibt es einerseits Alltagsgeräusche aus der Wohnung, die sich auf das Bildermachen rückbeziehen lassen und autobiografische Indizien bergen. Anrufe gehen ein. Es wird auf den Anrufbeantworter gesprochen. Es wird sich rasiert, gesprochen, Kaffee gekocht, abgewaschen, getrunken und vielleicht auch geraucht. Dazu kommen Sounds aus Radio und Fernsehen, die sich auch wieder datieren lassen: Barack Obamas Besuch in Berlin, das „Triple“ des FC Bayern München.

Hinzu kommt noch eine Kommentarebene, gesprochen von Schauspieler Clemens Schick, der eine Mischung aus Tagebuch-Einträgen zu Alltagsbegegnungen im Kino oder im Supermarkt und philosophischen Aperçus einspeist: „Ohne zu wissen warum, fühlt er sich in der Gegenwart von Dingen wohler als in der Anwesenheit von Menschen.“ Durch dieses letztlich dann doch ziemlich komplexe Gewebe von Bildern und Tönen wird „Lebe schon lange hier“, der zunächst nach Arte Povera aussah, dann doch zu einem inspirierenden und doppelbödigen „Heimatfilm“ über eine Kreuzung in Berlin im Jahre 2013.

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