Tod am Rennsteig - Auge um Auge

Krimi | Deutschland 2022 | 89 Minuten

Regie: Maris Pfeiffer

Nachdem die seltsam drapierte Leiche eines Richters nahe der Wartburg in einem Kühlschrank entdeckt wurde, ist das Team Operativer Fallanalysten aus Erfurt gefragt. Hierfür müssen sich ein eigenbrötlerischer Analytiker mit eigenwilligen Methoden und seine frisch aus den USA zurückgekehrte Kollegin erst zusammenraufen, die bald mit weiteren Opfern konfrontiert werden. Gelungener Auftakt zu einer neuen Fernsehkrimi-Reihe, in dem Thüringen den atmosphärischen Hintergrund abgibt und der einige kreativ entworfene Charaktere aufbietet. Sowohl die ostdeutschen Biographien als auch der metaphysische Überbau sind angenehm klischeefrei gehalten. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Polyphon
Regie
Maris Pfeiffer
Buch
Jens Köster
Kamera
Volker Tittel
Musik
Martin Tingvall
Schnitt
Anke Berthold
Darsteller
Bernhard Conrad (Jan Kawig) · Kristin Suckow (Annett Schuster) · Anne-Kathrin Gummich (Marion Dörner) · Berit Künnecke (Sabine Limmer) · Jing Xiang (Vanessa Sun)
Länge
89 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Krimi

Auftakt zu einer Fernsehkrimi-Reihe um ein Team von Fallanalysten in Thüringen, das sich bei den Ermittlungen um eine Serie bizarrer Morde erst zusammenraufen muss.

Diskussion

„Wir arbeiten hier zusammen, im Kollektiv“, bekommt Annett Schuster (Kristin Suckow), nach einer wissenschaftlichen Famulatur aus Boston soeben in ihre thüringische Heimat zurückgekehrte Kriminalpsychologin, von ihrer Chefin (Anne-Kathrin Gummich) zu hören, nachdem sie eine allzu exponierte Ermittlungstaktik im Alleingang durchgezogen hat. Willkommen 2023 am Rennsteig! Sollte es dort wirklich immer noch so „piefig“ zugehen, wie vor Jahr und Tag, als Schuster, damals talentierte Absolventin der Polizeischule, mehr wollte und „nach drüben“ ging?

Wie so oft in den populären Landschaftskrimi-Reihen werden die Kulissen mit viel Lokalkolorit ausgemalt. Hier ist es allerdings weniger der Höhenkamm des titelgebenden Mittelgebirges als die pittoreske Erfurter Innenstadt. Und ebenso erwartbar wird die Neue bereits an ihrem ersten Arbeitstag mit den blutigsten Aspekten ihres Gewerbes konfrontiert. In der Pilotfolge „Auge um Auge“ (Buch: Jens Köster, Regie: Maris Pfeiffer) macht sich ein Team daran, mit den Methoden der Operativen Fallanalyse (OFA) drei aktuelle Serienmorde aufzuklären, die zunächst das Gepräge religiösen Wahns tragen, schließlich jedoch noch ganz andere Motivlagen offenbaren.

Wie Kubricks Monolith im Thüringer Wald

Alles beginnt mit einem großen Kühlschrank aus glattem Edelstahl, der wie Kubricks Monolith aus „2001: Odyssee im Weltraum“ im Thüringer Wald steht, und einem Hund namens Helmut. Dessen feine Nase wittert darin noch vor den menschlichen Fährtenlesern nicht mehr ganz frisches Fleisch, und die schnell hinzugezogene OFA-Truppe findet eine männliche Leiche in eigentümlicher Haltung vor: halb kniend, die Hände wie zum Gebet gefesselt – der Kühlschrank als kalter Beichtstuhl? Auch fehlt dem Opfer das linke Auge, offensichtlich wurde es postum entfernt.

Nachdem die Identifizierung ergibt, dass es sich um einen bekannten „Richter Gnadenlos“ handelt, ist Schuster und ihrem einsilbigen Kollegen Jan Kawig (Bernhard Conrad) klar: Bei diesem Fall möchte der Täter (da alsbald offenbar: Wolfgang Menardi) nicht nur selbst richten, sondern auch eine dringliche Botschaft absetzen, und zwar mit dem ganzen Repertoire der abendländischen Kultur- und Religionsgeschichte. Doch welche? Justitia ist in Thüringen auf dem linken Auge blind? Und was ist das Motiv? Rache für ein Fehlurteil – oder doch ein Eifersuchtsdrama?

Wie Hund und Katz

Das müssen nun vor allem Kawig, der Altgediente, stets dem Osten treu Gebliebene, und die junge, hippe Frau Schuster aus Boston zusammen ermitteln. Dieses Gespann wie Hund und Katz produziert zwar zunächst die genretypischen internen Reibereien, aber noch während der ersten Folge wird aus den beiden ein leidlich funktionales Team, das sogar ehrliches Interesse aneinander empfindet. Sogar Sympathie scheint zum Schluss zwischen ihnen auf.

Liegt der Fokus anfangs eher auf ihr, ihrem Hadern mit dem Heimkommen sowie dem klassischen Konflikt der Profilerin zwischen Verstand und Gefühl („Was sagt Ihr Bauch?“ – „Mein Bauch spricht nicht.“), rückt allmählich der als Figur vielleicht noch profiliertere Kawig in den Vordergrund. Während man ihr wahlweise peinliche Komplimente macht („Sie sind sooo schön!“, Jing Xiangs erster Satz als total schräge Pathologin) oder sie lieber in eine „Boutique“ stecken möchte, sie also auch von ihren Kolleginnen vor allem an der Oberfläche betrachtet und beurteilt wird, offenbart Kawig peu à peu sein komplexes Innenleben sowie eine nonkonformistische ostdeutsche Biografie. Als Lehrersohn in der katholischen Diaspora im Eichsfeld ausgewachsen, war er sowohl in seiner Gemeinde tätig als auch kurz nach der Wende ein ziemlicher Draufgänger auf dem Egotrip – und hat sich mit diesem Verhalten wohl nicht nur Freunde gemacht.

Mit Stullen im Gotteshaus

Kawig lebt auf einem Gehöft vor den Toren der Stadt; er ist wortkarg, was leicht als mürrisch missverstanden werden kann; und er verschwindet häufig mitten am Tag aus dem Büro. Man findet ihn dann meist in einem der großen Erfurter Gotteshäuser, wo er gerne herzhaft in seine Stullen beißt. Schuster: „Gehen Sie in die Kirche, weil Sie gläubig sind – oder um nachzudenken?“ Kawig: „Beides.“ Seine Sonderrolle als einziger Mann im Team mit vier Frauen erträgt er in stoischer Gelassenheit.

Jan Kawig zählt eindeutig zu den gelungeneren Figureninnovationen in jüngster Zeit. Die Rolle hält sicherlich auch noch weitere biografische Details bereit, die in den folgenden Episoden dramaturgisch geschickt eingesetzt werden könnten.

Als in kurzer Folge ein weibliches Mordopfer sämtliche Zähne einbüßt (die sich als makabrer Marienschmuck wiederfinden) und dem Direktor des Frauengefängnisses als Vertreter der strafenden Exekutive eine Hand fehlt, ist klar: Hier wird täterseitig in starker archetypischer Bildsprache kommuniziert, die sich zwar eindeutiger religiöser Motivik bedient („Auge um Auge, Zahn um Zahn“), in ihrer Botschaft jedoch letztlich vage bleibt. Vielmehr scheinen für den Täter Aberglaube und Zwanghaftigkeit ein mindestens ebenso großer Antrieb zu sein. Nach einer Undercover-Aktion im Frauenknast (Schuster) und einer Verfolgungsjagd zu Fuß bis unter die Erfurter Krämerbrücke (Kawig), augenzwinkernd angelehnt an „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ (inklusive roter Farbakzente), kommt es in diesem Eastern aus Ostdeutschland zu einem veritablen Showdown von Mann gegen Mann. Zwei Särge werden geliefert, doch nur einer wird benötigt.

Alles in allem führt sich diese neue Krimireihe gut und glaubwürdig ein; sie präsentiert in ihrer Pilotfolge ein abwechslungsreiches Setting, zwei mit kreativer Fantasie entworfene Charaktere abseits der Klischees des postsozialistischen Soziallebens plus gerade so viel an metaphysischem Überbau, um den Gang der Ermittlungen nicht zu stören. So soll es sein! Das nächste Mal aber bitte mehr vom Rennsteig zeigen; es lohnt sich!

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