Spätestens seit der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 ist die Gefährlichkeit der Fluchtroute über das Mittelmeer in den europäischen Medien allgegenwärtig. Erschöpfung, Hunger, Durst, Folter, Tod durch Ertrinken: die Leiden der Menschen, die vor unerträglichen Lebensbedingungen fliehen, verbergen sich hinter abstrakten Begriffen und Statistiken. Viele der Toten, insbesondere nach Bootsunglücken, bleiben anonym. Was die Flüchtenden schon hinter sich haben, wenn sie ein Boot besteigen, wie ihre Schicksale im Einzelnen aussehen, vor was sie weglaufen: all das kommt in den Nachrichten nicht vor.
Zwei Teenager träumen von Europa
Der italienische Regisseur Matteo Garrone gibt der Flüchtlingskrise nun zwei Namen und zwei Gesichter. „Ich Capitano“ erzählt die Geschichte von Seydou (Seydou Sarr) und Moussa (Moustapha Fall), zwei Cousins, die in Dakar, der Hauptstadt des Senegal, leben. Ihr Alltag ist nicht einfach, aber trotzdem nicht trist, wie eine kurze Tanzszene zeigt, bei der Seydou die Trommeln schlägt. Wie viele ihrer Altersgenossen träumen auch die beiden Teenager von einem besseren Leben in Europa. Als Musiker wollen sie dort Geld verdienen und damit ihren Familien zuhause helfen. Doch Seydous Mutter weiß um die Gefahren einer solchen Reise. Ihr Sohn ist ihr wichtiger als das Geld. Seydou aber schlägt die Warnungen in den Wind und macht sich mit Moussa heimlich auf den Weg.
Eine eingeblendete Karte zeigt, was das bedeutet: vom Senegal über Mali durch die Sahara bis nach Libyen, wo es von Tripolis aus dann mit dem Boot nach Italien gehen soll. Das ist eine fürchterliche Strapaze, bei der gewissenlose Schleuser erschöpfte Menschen, die den Anschluss an einen Treck verlieren, einfach ihrem Schicksal überlassen oder skrupellose Rebellen den Migranten das Geld stehlen, mit dem sie die Fahrt über das Mittelmeer bezahlen wollten. Grausiger Höhepunkt ist ein Gefängnis in Tripolis, in dem Flüchtlinge brutal gefoltert werden, um ihnen noch mehr Geld abzupressen. Ein Vorhof der Hölle, in dem Barmherzigkeit und Mitmenschlichkeit nichts mehr gelten, in dem die beiden Jugendlichen getrennt werden. Trotzdem findet Seydou nach einigen Wochen unbezahlter Arbeit auf einer Baustelle im Hafen von Tripolis ein Schiff. Damit ist sein Leidensweg aber noch keineswegs zu Ende.
Der Mensch ist des Menschen Feind
Die Inszenierung konzentriert sich ganz auf die Odyssee der beiden jungen Protagonisten. Die politischen Diskussionen in den Zielländern Italien, Spanien, Deutschland oder Großbritannien spart er aus. Politiker, die Migranten polemisch als große Gefahr ausmachen, kommen nicht zu Wort. Garrone spürt vielmehr den Beweggründen der Figuren nach und schildert ihre mitleidlosen Erfahrungen auf der langen Reise. Zu Beginn charakterisiert er Seydou und Moussa als naive, sorglose Jungen, für die Europa ein diffuser Sehnsuchtsort ist. Wie es dort wirklich zugeht, dass es auch dort Armut und Arbeitslosigkeit gibt, ahnen sie nicht. Auch über die Gefahren der Reise haben sie nicht nachgedacht. Mal eben durch die Sahara und übers Mittelmeer – das kann doch nicht so schwer sein.
Doch die eigentlichen Gegner kennen sie noch nicht: Schleuser, Rebellen, Soldaten, Folterer, Menschenhändler, Verbrecher. Der Mensch ist des Menschen Feind. Schon bei der Busfahrt nach Mali muss Seydou den Grenzbeamten bestechen, weil ihre teuer bezahlten Ausweise gefälscht sind – die erste Desillusion, der noch viele weitere folgen werden. Zu den traurigen Aspekten von „Ich Capitano“ zählt, wie die beiden Teenager abrupt ihrer Jugend beraubt werden und viel zu schnell erwachsen geworden, ums pure Überleben kämpfen müssen.
Seydou Sarr macht die rasche Wandlung seiner Figur eindrucksvoll deutlich. Glaubwürdig und natürlich verkörpert er die Wandlung vom gedankenlosen Schlingel zum unfreiwilligen Überlebenskämpfer, der Verantwortung für andere übernehmen muss. Im schmerzhaften Gegensatz zur brutalen Realität des Geschehens steht die atemberaubende, fast schon märchenhafte Schönheit der Natur. Besonders die Sahara strahlt eine Erhabenheit aus, in der die Menschen nur als kleine Punkte auszumachen sind.
Bittere Wahrheiten
„Ich Capitano“ durchbricht aber auch immer wieder die Wand zwischen Wirklichkeit und Fantasie. Einmal träumt Seydou, dass er einer alten Frau, die in der Wüste zusammengebrochen ist, hilft, sie auf seinen Schultern trägt und ihr Leben rettet. Doch die bittere Wahrheit ist eine andere.