RR - Railroad

Dokumentarfilm | USA/Deutschland 2007 | 111 Minuten

Regie: James Benning

In statischen Einstellungen filmt James Benning 43 Güterzüge, die verschiedene US-amerikanische Landschaften durchfahren. Wie schon in seinen früheren Arbeiten eröffnet das ruhige Verharren der Kamera auf dem reduzierten Bildmotiv reiche Assoziationsräume und ermöglicht dem aufnahmebereiten Zuschauer sowohl analytische als auch meditative Betrachtungen. Weitere Impulse liefert zusätzlich zu den Bildern die Tonebene, auf der die Geräusche der sich nähernden und entschwindenden Züge durch sechs O-Töne ergänzt werden, z.B. aus einer Rede von Präsident Eisenhower, die die Aufnahmen der Züge mit verschiedenen Kontexten in Verbindung bringen. - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
RR
Produktionsland
USA/Deutschland
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
James Benning/WDR
Regie
James Benning
Buch
James Benning
Kamera
James Benning
Schnitt
James Benning
Länge
111 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Dokumentarfilm

Diskussion
Kino extrem: Die Kamera ist fest an einem Platz aufgestellt und nimmt 43 durch US-amerikanische Landschaften fahrende Güterzüge auf. Eine Einstellung dauert so lange, wie der Zug braucht, um im Bild aufzutauchen, es zu durchqueren und wieder zu verschwinden. Manche Züge sind kurz, andere setzen sich aus mehr als 100 Waggons zusammen; sie ziehen durch Einöden, über Brücken, durch malerische Täler, vorbei an Ladestellen von Industriebetrieben, durch kleinstädtische Siedlungen; mal hört man die Züge, bevor sie ins Bild kommen, mal ist die Einstellung erst beendet, wenn das letzte Quietschen und Klappern verklungen ist. Gäbe es nicht diese akustische Ebene, könnte man sich in die Urzeit der Kinematografie zurückversetzt fühlen, als die Brüder Lumière mit „L’arrivée d’un train à la gare de la ciotat“ (1895) erstmals Eisenbahn und Kino zusammenbrachten. Zwei Apparaturen, zwei Maschinen: das „Attraktionsmedium und das Transportmittel“, wie es Christa Blümlinger beschreibt – beide entwickeln sich „zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den gemeinsamen sozialen und kulturellen Feldern von Technologie, Tourismus, öffentlichem Schauspiel und Fotografie, beide beruhen auf der Institutionalisierung einer standardisierten Zeit“. Längst haben Eisenbahn und Kino ihre einstigen „Alleinstellungsmerkmale“ eingebüßt, und so ist es denn auch weniger eine historisch-dokumentarische als eine zeitgemäß philosophische Betrachtung, die James Benning anstellt: Reflexionen über Bewegung und Stille, über Raum und Zeit und vor allem auch über visuelle und soziale Veränderungen in Raum und Zeit. Die Rückbesinnung auf die Stilmittel der Kinoanfänge ist ein Nachdenken über den Jetzt-Zustand des Kinos wie der Welt. Für den Avantgardisten James Benning, der u.a. bereits Wüsten, Seen und Wolken der beharrlichen Betrachtung unterzog, ist „RR“ fast schon ein „Actionfilm“, weil es hier vergleichsweise flexible Einstellungslängen gibt und eben bewegliche Betrachtungsobjekte. Benning konzentriert die Wahrnehmung auf eine einzige Form der filmischen Bewegung: Es gibt keine durchfahrene Landschaft aus Sicht der Lokomotive oder eines Reisenden aus dem Zugabteil heraus – also keine Bewegung des Bildes –, sondern ausschließlich die Bewegung im Bild, am Zuschauer vorbei (noch nicht einmal auf den Betrachter zu, das wäre bereits pure Dramatik). Bennings Leidenschaft ist die eines Künstlers, der den kinematografischen Apparat nicht im konventionellen Verständnis „filmisch“ nutzt und eher der Bildenden Kunst oder der musealen Installationskunst nahe ist – und der doch nur im Kino den einzig wahren Rezeptionsraum hat. Benning gibt mit seinen Einstellungen den „Rahmen vor“; was sich darin „abspielt“, ist sehr wenig und doch ungeheuer viel und reich – unter der Voraussetzung, dass sich der Zuschauer Zeit lässt zu schauen, zu assoziieren, selbst kreativ zu werden. Einerseits wohnt dem ein kontemplativer Ansatz inne, der ans zen-buddhistische Prinzip der Leere denken lässt, bei der man alles „vergisst“ und sich doch alles Wesentliche vergegenwärtigt. Andererseits gibt es eine sehr konkrete Ebene: Der Kamerablick fällt auf menschenleere Räume, auf wie von Geisterhand bewegte Transportwaggons, die sich „dramaturgisch“ zu immer wuchtigeren Modellen „steigern“ und die Frage erzwingen, wer da eigentlich was transportiert, wohin, für wen und zu welchem Zweck. Dies bestärken sechs eingestreute Tonfragmente, „Found-Footage-Töne“, die dazu anregen, über die (Montage-)Beziehung von Bild und Ton nachzudenken. Da singt u.a. ein Mormonenchor die patriotische „Battle Hymn of the Republic“, Gregory Peck liest aus der „Offenbarung des Johannes“, Präsident Eisenhower hält 1961 eine Rede, in der er vor der Allianz von Militär und Industrie warnt – assoziative additive Angebote, über weitere „apparative“ Verwandte von Kino und Eisenbahn nachzudenken, u.a. den Krieg. Natürlich kann man es sich auch einfacher machen und „RR“ zum Anlass für kreative Spielereien nehmen: Man könnte versuchen, die vorüberziehenden Waggons zu zählen. Fallen einem dann die Augen zu? Es könnte tatsächlich etwas Einschläferndes haben, positiv ausgedrückt: etwas Entspannendes, „Reinigendes“, dem man den eigenen Pulsschlag angleicht. Oder suchen die Augen doch eher den filmischen Raum ab und entdecken die Schönheit der Einstellungen, die geheime Logik der Züge? Gewiss, das ist Kino, das herausfordert: ein zeitloses Abenteuer, bei dem man träumen, fantasieren und fabulieren kann, aber auch analysieren und erkennen – was will man mehr von schöpferischem, anspruchsvollem Kino?
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