Coming-of-Age-Film | USA 2017 | 128 Minuten

Regie: Destin Daniel Cretton

Verfilmung der Autobiografie einer US-amerikanischen Journalistin, deren Kindheit in den 1970er-Jahren vom Freiheitsethos ihrer exaltierten Eltern geprägt war. In zahllosen Rückblenden rekapituliert der Film die daraus resultierende Vernachlässigung und Überforderung des Mädchens, das sich als Heranwachsende mühsam von seinen traumatischen Erfahrungen emanzipiert. Die feinfühlige Inszenierung rekapituliert einen schmerzhaften Emanzipationsprozess, droht durch die finale Versöhnung am Ende aber ins Leere zu laufen. Vorzüglich gespielt, besticht der Film weniger durch Subtilität als durch die Ambivalenz einer in atmosphärischen Bildern beschworenen Kindheit. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
THE GLASS CASTLE
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Lionsgate/Netter Prod.
Regie
Destin Daniel Cretton
Buch
Destin Daniel Cretton · Andrew Lanham
Kamera
Brett Pawlak
Musik
Joel P. West
Schnitt
Nat Sanders
Darsteller
Brie Larson (Jeannette) · Woody Harrelson (Rex) · Naomi Watts (Rose Mary) · Max Greenfield (David) · Ella Anderson (jüngere Jeanette)
Länge
128 Minuten
Kinostart
21.09.2017
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Coming-of-Age-Film | Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
StudioCanal
Verleih Blu-ray
StudioCanal
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Drama über einen Kindheit unter dem Diktat radikaler Freiheit

Diskussion
Die durchsichtigen Wände könnten all die Sonnenwärme in sich einschließen. Dadurch würden sie energetisch autark, mit freier Aussicht und dennoch geschützt. So preist Rex seiner kleinen Tochter Jeannette das gläserne Schloss an, das er eines Tages für die Familie bauen werde. Durch ein solches Dach wären die Sterne, die der Vater aus Ermangelung anderer Dinge zu Weihnachten verschenkt, zum Greifen nah. Zumindest ist das Gedankengebäude der größtmögliche Kontrast zu den Städten, von denen Rex immer behauptet, dass man dort vor lauter Dreck den Himmel nicht mehr sehen könne. 15 Jahre später, im Jahr 1989, lebt Jeannette in New York. Abends im Luxusrestaurant unterhält die Journalistin die Geschäftspartner ihres Freundes mit ihrer ländlichen Herkunft. Der Vater hätte als Ingenieur über Kohleenergie geforscht. Ihre Mutter sei Künstlerin. Jeannette errichtet hinsichtlich ihrer Vergangenheit jedoch Luftschlösser, die schnell verpuffen: Noch auf der Fahrt nach Hause sieht sie ihre Eltern auf offener Straße beim Wühlen im Müll. In Jeannettes Yuppie-Apartment stehen dagegen die unausgepackten Kartons. Die junge Frau hält im Hinblick auf ihre Zukunft etwas zurück, wovon ihr vernarbter Körper und die Rückblenden zeugen. Mit ihnen springt die Verfilmung der gleichnamigen Autobiografie von Jeannette Walls immer wieder in die Vergangenheit und blättert eine Kindheit in den 1970er-Jahren auf, in denen sich der Traum von der totalen Freiheit in einen Albtraum verwandelte. Das Familienoberhaupt Rex Walls machte seinem Namen alle Ehre und verhielt sich wie ein exaltierter König. Starrsinnig und aufbrausend stellt er sich gegen Schulen, Behörden und Ärzte, gegen jegliche Fesseln, mit der die Gesellschaft ihre jüngsten Mitglieder zu formen, aber auch zu schützen versucht. Rex schwankte zwischen manisch und aggressiv, zwischen genial und wahnsinnig dumm, wenn es darum ging, die Schutzbedürfnisse seiner Kinder im Blick zu behalten. Eine Paraderolle für Woody Harrelson, dessen Figuren so oft mit bohrendem Blick und bedrohlicher Physis aus der Spur laufen. Regisseur Destin Daniel Cretton gelingt es ähnlich feinfühlig wie in seinem Drama „Short Term 12“ (2013), die Missstände und die bleischwere Verantwortung nachzuzeichnen, die Jeannette für ihre drei Geschwister trug. So schmuggelt sie der Vater beispielsweise aus dem Krankenhaus, nachdem sie sich beim Kochen von Würstchen verbrüht hatte und mit schweren Brandverletzungen in die Notaufnahme eingeliefert worden war; im Schwimmbad warf der Vater das wasserscheue Mädchen so lange ins Wasser, bis sie aus der Not heraus die Schwimmzüge zur rettenden Leiter schaffte. Im heruntergekommenen Kohleminen-Ort Welch bezieht die Familie eine Bruchbude, in die der Vater eines Nachts ohne Essen, aber mit Alkoholfahne zurückkehrt und sich von Jeannette die Fleischwunde einer Schlägerei zunähen lässt. All das sind kleine Schnipsel sträflich vernachlässigter Fürsorgepflicht. Rex würde erwidern: „Father knows best.“ Jeannette, die Lieblingstochter, erkennt, dass Rex’ Verhältnis zu ihrer Mutter schwer belastet ist, und schwört ihre Geschwister auf Zusammenhalt ein, weil gegen diesen Mann niemand ankommt: weder die Krankenschwestern noch der Bademeister, und erst recht nicht die Mutter, die ihre eigenen Unsicherheiten vor die Sicherheit ihrer Kinder stellt. Und doch lässt „Schloss aus Glas“ immer wieder durchscheinen, dass auch glückliche Momente der Freiheit und der Kreativität die Entbehrungen wie kleine Sonnenstrahlen durchbrechen. Wie etwa das kritische Denken des Vaters Jeannette zu der Frau machte, die sich in New York behaupten kann: stark genug, um die Schuld des Vaters zu benennen, sich zu distanzieren – und vielleicht auch zu verzeihen. Hier gerät die wenig subtile, in den Rückblenden aber atmosphärisch sehr packend erzählte Emanzipationsgeschichte allerdings aus dem Tritt, da die Anklage so dezidiert erhoben wurde, dass jede Abweichung ins Gefällig-Versöhnliche die Geschichte zu schwächen droht. Zumal der Film mit realen Aufnahmen von Walls’ Eltern endet, die das Autobiografische des Stoffes unterstreichen. Die Darsteller schlüpften allerdings so überzeugend in ihre Rollen, dass man die wahren Gesichter hinter der Semi-Fiktion gar nicht kennenlernen möchte – vor allem nicht im Rahmen einer Versöhnlichkeit, die angesichts der krassen Leidensgeschichte seltsam aufgesetzt wirkt.

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