The Wounded Angel

Drama | Kasachstan/Deutschland/Frankreich 2016 | 113 Minuten

Regie: Emir Baigazin

Kasaschstan, Mitte der 1990er-Jahre: In der postsowjetischen Gesellschaft werden vier Jugendliche und junge Männer Opfer der allgemeinen Perspektivlosigkeit, erleben Gewalt und üben sie selbst aus. Das schwermütige Drama spannt in vier Episoden, die von den symbolistischen Ölgemälden des finnischen Malers Hugo Simberg inspiriert wurden, kein unmittelbar realistisches, sozialkritisches Szenario auf, sondern bleibt surreal und allegorisch. Die artifizielle Inszenierung voller biblischer Anspielungen zeichnet die existenzielle Tragödie der jungen Generation, setzt am Ende aber doch noch ein Zeichen der Hoffnung. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
RANENYY ANGEL
Produktionsland
Kasachstan/Deutschland/Frankreich
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Kazakhfilm/Augenschein Filmprod./Capricci Films
Regie
Emir Baigazin
Buch
Emir Baigazin
Kamera
Yves Cape
Schnitt
Emir Baigazin
Darsteller
Nurlybek Saktaganov (Zharas) · Madiyar Aripbay (Balapan / Küken) · Madiyar Nazarov (Zhaba / Kröte) · Omar Adilov (Aslan) · Anzara Barlykova (Rosa)
Länge
113 Minuten
Kinostart
03.11.2016
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Episodenfilm
Externe Links
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Allegorie einer perspektivlosen Jugend im Kasachstan der 1990er-Jahre

Diskussion
Ein karger Raum. An der nackten Wand ein schäbiger Spiegel. Davor ein schmaler Junge mit bloßem Oberkörper. Den Blick auf sein Spiegelbild gerichtet, holt er zu einem Faustschlag aus. Doch in dem Moment, in dem er zuschlägt, fällt das Licht aus. „The Wounded Angel“ spielt in einem abgelegenen Dorf in der kasachischen Steppe, Mitte der 1990er-Jahre, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Um Geld zu sparen, stellt die Regierung Kasachstans jeden Abend punkt 21.00 Uhr den Strom ab. Als der Junge vor dem Spiegel boxt, ist es mal wieder soweit. Gleich in dieser ersten Einstellung komprimiert der kasachische Regisseur und Drehbuchautor Emir Baigazin die düsteren Aussichten einer ganzen Generation. Anschließend variiert er diese Chiffre in vier Episoden, die von den symbolistischen Ölgemälden des finnischen Malers Hugo Simberg inspiriert wurden. „Schicksal“, „Absturz“, „Gier“ und „Sünde“ lauten deren jeweils erst hinterher eingeblendeten „Überschriften“. Die erste Geschichte handelt von Zharas, der sich für seinen gerade erst aus dem Gefängnis zurückgekehrten Vater schämt. Um Geld für die Familie zu verdienen, schuftet Zharas in einer Getreidehandlung. Eines Tages verkauft er heimlich einen Sack Mehl und behält das Geld für sich selbst. Es dauert nicht lang, bis die Polizei vor der Tür steht. – „Schicksal“. Im Zentrum der zweiten Episode steht der sanftmütige Balapan, den alle nur „Küken“ nennen. Statt sich mit den anderen Jungs auf der Straße zu prügeln, singt er mit seiner engelsgleichen Stimme das „Ave Maria“. Balapan träumt davon, Sänger zu werden. Doch als er nach einer Halsentzündung seine Stimme verliert, verwandelt sich der friedliebende Junge in einen brutalen Schläger. – „Absturz“. In der dritten Episode zitiert Baigazin Simbergs Gemälde „Der verwundete Engel“. Das Bild zeigt zwei Jungen, die einen Engel mit Kopfverband auf einer Holzbahre tragen. Bei Baigazin wird aus dem Engel ein psychisch krankes, unablässig vor sich hin gackerndes Kind. Der 13-jährige Schrottsammler Zhaba begegnet dem Dreigestirn in einer stillgelegten Mine. Dort haben die drei einen ganzen Sack voll Silber aus Elektrokabeln gekratzt. Einer von ihnen (Timur Aidarbekov, der in Baigazins viel beachtetem Erstling „Harmony Lessons“ die Hauptrolle spielte) erzählt Zhaba die Geschichte vom verwundeten Engel. Der Engel erscheint den dreien immer dann, wenn sie vom Klebstoffschnüffeln high sind. Zhaba nutzt die Gelegenheit, ihnen auf grausamste Weise das Silber zu entwenden. – „Gier“. Die letzte Geschichte handelt wie schon die zweite von einer gescheiterten Hoffnung. Der fleißige Aslan, der älteste der vier Protagonisten, büffelt Tag und Nacht, um später einmal Medizin studieren zu können. Doch dann wird seine Freundin schwanger. Aslan überredet sie zur Abtreibung mit einem Gebräu, das er eigenhändig anrührt. Darüber aber verliert er den Verstand. Fortan wird er von der fixen Idee verfolgt, ein Baum wachse in seinem Bauch, und um den zu gießen, trinkt er kübelweise Wasser. – „Sünde“. Baigazin hat „The Wounded Angel“ als zweiten Teil einer Trilogie konzipiert. Bereits „Lehrstunden der Harmonie“ (2013) erzählte vom rauen Leben und der Perspektivlosigkeit eines Heranwachsenden in Kasachstan. Auch in „The Wounded Angel“ sind es ausschließlich Jungen, für die sich Baigazin interessiert. Aslans schwangerer Freundin ist das einzige Mädchen, das in Erscheinung tritt. Wie es ihr nach der Abtreibung ergeht, spielt für den Film keine Rolle. Frauen kommen in „The Wounded Angel“ fast nur als Mütter vor, stets ein wenig lethargisch, gutmeinend, hilflos. Aber auch die Väter fungieren in erster Linie als Leerstelle. Zwei der vier Jungen wachsen ganz ohne Vater auf. Und über Zharas liegt das väterliche „Schicksal“ wie ein Fluch. Natürlich lässt sich das alles als historischer Verweis auf die orientierungslose Elterngeneration im postsowjetischen Kasachstan deuten. Und unverkennbar sind die Protagonisten Opfer und Produkte der verheerenden Verhältnisse. Im Vergleich zu Baigazins Erstling rückt die soziale Dimension aber spürbar in den Hintergrund. Trotz der konkreten historischen Verortung entwickelt Baigazin in „The Wounded Angel“ kein unmittelbar realistisches, sozialkritisches Szenario, sondern ein surreal-allegorisches. Von Anfang an schlägt sich dies in einer artifiziellen, beinah brechtianischen Inszenierung nieder. Wiederholt fotografiert der belgische Kameramann Yves Cape durch Türen, Fenster, Ruinen hindurch, rückt die Protagonisten nur indirekt über ihre Spiegelbilder oder als Schattenrisse ins Bild. Mehrfach schneidet er ihre Gesichter in Nahaufnahmen ganz ab. Auch die Mütter sind oftmals nur aus dem Off zu hören. Auf Filmmusik verzichtet Baigazin nahezu vollständig. Stattdessen lauscht er in langen, statischen und nicht selten frontalen Totalen dem Klang alltäglicher Geräusche, was eine unheilvolle, klaustrophobische Atmosphäre erzeugt. Auch der Duktus der Laienschauspieler wirkt nicht authentisch. Mitunter rezitieren sie ihre Texte als stünden sie auf einer Bühne. Und nichts Anderes scheint dieses Kasachstan Mitte der 1990er-Jahre für Baigazin zu sein: die Bühne für eine existenzielle Tragödie, deren traurige Botschaft universelle Gültigkeit hat. So gesehen erscheint auch ein Vergleich mit Fassbinder nicht allzu weit hergeholt. Ähnlich wie dieser einst in seiner Verfilmung von Fontanes „Effi Briest“ (fd 18 889) setzt auch Baigazin seine Figuren bisweilen aus seltsam starren Posen in Bewegung, um sie am Ende der Szene wieder zu Tableau vivants einzufrieren. Bei Fassbinder implizierte diese Methode eine Kritik an Fontanes Roman, der, wie Fassbinder fand, seinen Figuren den Spielraum für soziale Veränderungen verweigerte. In „The Wounded Angel“ scheint es der Autor und Regisseur selbst, der alle Hoffnung verloren hat, ehe er sie ganz am Ende möglicherweise doch noch einmal wiederfindet. Der melancholische, schwermütige Tonfall des Films ruft Erinnerungen an Lars von Triers „Antichrist“ (fd 39 475) wach. Auch Baigazins Drama ist vollgepackt mit biblischen Anspielungen; etwa wenn Zhaba wie Judas seine Freunde für ein bisschen Silber verrät oder wenn er anschließend seine Hände in einer Pfütze im Bergwerksstollen in Unschuld zu waschen scheint. Der verwundete Engel ist bei Baigazin auch ein gefallener. Und die Hölle, von der er erzählt, reicht, weit über Kasachstan und das 20. Jahrhundert hinaus, tief in die menschliche Seele hinein.
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