Drama | Venezuela 1990 | 90 Minuten

Regie: Luis Alberto Lamata

Ein Dominikanerpater erhält zu Beginn des 16. Jahrhunderts von seinem Bischof den Auftrag, deutsche Conquistadoren auf der Suche nach dem geheimnisvollen Mar del Sur als Seelsorger zu begleiten. Die hehre Aufgabe wird zum Albtraum, als der Pater begreifen muß, daß nicht Missionierung das Ziel ist, sondern Unterwerfung und Ausrottung, daß Verschlagenheit, Brutalität, Habgier und Größenwahn die Männer leiten. Eine bildgewaltige Auseinandersetzung mit der "Wunde Conquista", die die Fülle der Probleme meisterlich darzustellen versteht. Auch in der Entwicklung des Dominikaners zu unmittelbarer Gottesnähe überzeugend. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
JERICO
Produktionsland
Venezuela
Produktionsjahr
1990
Produktionsfirma
Thalia Producciones FONCINE
Regie
Luis Alberto Lamata
Buch
Luis Alberto Lamata
Kamera
Andrés Agustí · Carlos Tovar
Musik
Federico Gattorno
Schnitt
Mario Nazoa · Uta Schmidt
Darsteller
Cosme Cortázar (Priester) · Francis Rueda · Doris Díaz · Alexander Milic · Luís Pardi
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Abenteuer | Historienfilm
Externe Links
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Diskussion
Die "psychologische Wunde Conquista" (Michael New) ist immer noch offen und schmerzt. Immer wieder neu reflektieren lateinamerikanische Filmemacher Conquista, Mission und die Folgen. So z. B. Nicholas Echevaria ("Cabeza de Vaca", fd 30 075), Gabriel Retes ("Neue Welt", fd 29 974) oder Michael New ("Cubagua"). In diesem Zusammenhang ist Luis Alberto Lamata mit seinem ersten Spielfilm "Jerico" einzuordnen. Die Conquista war ein überaus vielschichtiger Vorgang, dessen einzelne Elemente einerseits deutlich unterschieden werden können, die aber andererseits aufeinander bezogen, ja voneinander abhängig sind: Landnahme, Kolonisation und Unterwerfung, Raub und Mord; Zusammenprall der Kulturen; Kampf des Christentums mit dem überlieferten Glauben der Indios. Lamata gelingt mit "Jerico" eine der Komplexität der Conquista angemessene Reflexion in Form eines von "vom nach hinten geschriebenen Tagebuches", den "Erinnerungen des Horrors", in dem ein Frommer - Fray Santiago - mit seinem ihm unverständlichen Gott zürnt und hadert.

Der Dominikaner Santiago erhält von seinem Bischof den Auftrag, deutsche Conquistadoren, die das geheimnisvolle Mar del Sur suchen, als deren Seelsorger zu begleiten und die "entdeckten" Indios zu bekehren. Fray Santiago ist ein Buchgelehrter. Mit Büchern will er den Menschen und der Unordnung die Stirn bieten, die Welt ordnen. Der Auftrag seines Oberen wird ihn einen zweifachen Realitätsschock aussetzen: der Zug mit den Eroberern und die Konfrontation mit der Kultur der Urwaldindios lassen ihn zu einem anderen werden.

Hinter dem glanzvollen und farbenprächtigen Heereszug der Conquistadoren mit Standarten und Kirchenfahnen steht keine Größe, sondern, wie Fray Santiago entsetzt begreifen muß, Verschlagenheit, Brutalität, Habgier, aberwitziger Größenwahn und - nicht nur als Metapher zu verstehen - Kannibalismus. Er versucht sich zu retten. "Die Kirche und ich haben mit all dem nichts zu tun" - sein blutgefärbtes Ordensgewand sagt genau das Gegenteil - und verhängt den Interdikt. Als Gefangener der Indios lernt er schmerzhaft, daß seine religiösen, kulturellen und sozialen europäischen Selbstverständlichkeiten hier nutzlos sind. Die fremde Kultur ist von solch einer Kraft, daß sie ihn überwältigt und ihn sich eingliedert.

Lamata unternimmt eine theologische Deutung der Geschichte Amerindias/Lateinamerikas. "Jerico" der Titel des Films, ist dafür die Kurzformel. "Jerico" wäre mit Jericho in Beziehung zu setzen. Jericho: eine wegen ihrer paradiesischen Fruchtbarkeit gerühmten Stadt; Jerico: der amerikanische Kontinent ein Land verschwenderischer Vegetation. - Jericho: die erste von den Israeliten eroberte kanaanäische Stadt, auf Jahwes Geheiß geplündert, ausradiert und seine Bewohner niedergemetzelt; Jerico: Conquista, Seuchen, Sklaverei, Ecomienda und Schwertmission. - Jericho: im 9. Jh. v. Chr. Sitz einer Prophetengemeinschaft; Jerico: Ort des humanen und prophetischen Protestes der Missionare gegen Conquista und Schwertmission.

Welchen Sinn macht das Leid der indianischen Völker, das ihnen nicht zuletzt im Namen des christlichen Gottes zugefügt wurde? Auf die Theodizee-Frage weiß Fray Santiago keine Antwort, aber Gottes Bedrohung hat ihn nicht zerstört. "Jericho ist noch nicht gefallen. ... Jericho ist in meiner Seele." Santiago: Heiliger Jakobus. Ein bemerkenswerter Rollenname. Jakobus (d. Ä.) ist der Erstmärtyrer des Apostelkollegiums, dargestellt mit Buch oder Schriftrolle und Muschel; in Ritterrüstung auf weißem Pferd als "Matamaros" (Maurentöter), Patron der Reconquista, den auch die Conquistadoren um Beistand anriefen. In der Figur des Fray Santiago und in seiner Geschichte bündelt Lamata die ganze Problematik der Conquista.

Sein schwieriges Unterfangen gelingt meisterlich. Die einfache dramaturgische Konzeption macht den Blick auf die Kernpunkte der Problematik frei. Ein "Vorspiel" zeigt die geordnete Kolonialwelt, vor allem die spanischen Siedler, kleine Leute mit bescheidenen Wünschen ans Leben. Des Dramas erster Akt: Fray Santiago, der Apostel, dem es "nach Seelen dürstet", als Angehöriger des Conquistadorenzuges. Langsam und erst nur andeutungsweise beginnend und in einem furiosen Creszendo gipfelnd - Enthauptung, Zubereitung und Verzehr eines "abtrünnigen" Indios - tritt die innere Fäulnis des Unternehmens zutage. Im zweiten Akt des Dramas häutet sich Fray Santiago von einem Diener der Kirche, der in der Karibik das (europäische) Christentum einpflanzen will, zu einem Mann Gottes in unvermittelter Gottesnähe in den religiösen Traditionen der indigenen Völker. "Nachspiel": Auf die "Befreiung" durch die Spanier und auf die Gefangensetzung durch seine - ehemaligen - Ordensbrüder reagiert Fray Santiago mit Verweigerung. Der äußerlichen Unfreiheit setzt er die innere Freiheit eines von Gott Geprüften entgegen: prophetisches Zeichen des Machtlosen.

Die Bildkompositionen sind von großer künstlerischer Kraft, die oft Dichte und Prägekraft von Symbolen erreichen: die mit den Fluten versinkende Floßsänfte Fray Santiagos, seine fortgeschwemmten Bücher; der Hirtenstab/das Kreuz als Stütze und erdrückender Balken; die Verklärung Fray Santiagos im kultischen Drogenrausch, der in einer Unió mystica gipfelt; Ordensgewand und Landschaft als Signale innerer Befindlichkeit. Die Liste ließe sich fortsetzen.
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