Drama | Türkei/Bulgarien/Deutschland 2018 | 103 Minuten

Regie: Ömür Atay

Nach vier Jahren Gefängnisaufenthalt für den „Ehrenmord“ an seiner Schwester wird ein 17-Jähriger auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen. Draußen erwartet ihn sein älterer Bruder, der ihm erstmal einen Job in der familieneigenen Autobahnraststätte in Ost-Anatolien verschafft und ihn auch sonst genau im Auge behält. Kontemplativ und äußerst präzise erzähltes, vorzüglich gespieltes, aber letztlich eher pessimistisches Familiendrama um die Konflikte zwischen religiös unterfütterter Familientradition und individueller Moral. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
KARDESLER
Produktionsland
Türkei/Bulgarien/Deutschland
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Atay Film/Chouchkov Brothers/Fiction 2.0/Off Film
Regie
Ömür Atay
Buch
Ömür Atay
Kamera
Emre Tanyildiz
Musik
Erdem Helvacioglu
Schnitt
Amon Guillard · Doruk Kaya
Darsteller
Yigit Ege Yazar (Yusuf) · Caner Sahin (Ramazan) · Gözde Mutluer (Yasemin) · Cem Zeynel Kiliç · Ozan Çelik
Länge
103 Minuten
Kinostart
09.01.2020
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama

Kontemplatives Drama um einen 17-Jährigen, der nach vier Jahren Haft wegen des „Ehrenmordes“ an seiner Schwester wieder in die Familie aufgenommen wird, aber speziell mit seinem Bruder in Konflikt gerät.

Diskussion

Ein Gefängnisaufenthalt ist gewiss kein Zuckerschlecken, aber mit etwas Glück und Geschick kann man es sich dort einrichten, wenngleich es gilt, die ausgesprochenen und die unausgesprochenen Regeln zu kennen und zu beachten. Nach vier Jahren Gefängnisaufenthalt für den „Ehrenmord“ an seiner Schwester steht für den 17-jährigen Yusuf die Entlassung auf Bewährung bevor. Offenbar hat ihn seine Familie selten oder nie im Gefängnis besucht, jedenfalls reagiert der ohnehin verschlossene Yusuf reserviert bis abweisend, als plötzlich sein älterer Bruder Ramazan im Gefängnis auftaucht. Er habe vorher keine Zeit gehabt, Militärdienst abgeleistet und überhaupt viel zu tun.

Als Ramazan Yusuf schließlich abholt, geht es erst in eine Bar, wo der joviale Ramazan eine Escortdame für den Jüngeren engagiert hat. Doch Yusuf ist nicht in Stimmung und eben auch erst 17 Jahre alt. Er darf sich in dieser Bar gar nicht aufhalten. Bei einer Razzia wäre es aus mit der nur zur Bewährung ausgesetzten Strafe. Ramazan hat das nicht bedacht, nimmt aber kurzerhand großzügig selbst das Arrangement wahr. Anschließend geht es weiter in Richtung Heimat, aber Ramazan hat es gar nicht eilig, während Yusuf darauf drängt, seine Mutter wiederzusehen. Doch die nächste Station ist erst einmal eine abgelegene Raststätte mit Tankstelle an einer Transitstrecke nach Iran, die sich im Besitz der Familie befindet. Hier soll wohl auch Yusuf zunächst eine Beschäftigung finden.

Konzentration auf die beiden Brüder

Die Kamera konzentriert sich zumeist ganz auf die beiden Brüder; das Umfeld erscheint häufig nur schemenhaft. Schnell ist klar, dass das Verhältnis des Brüderpaares durch irgendein Vorkommnis getrübt ist, wiewohl Ramazan überhaupt nicht thematisiert, wofür Yusuf im Gefängnis einsaß. „Brothers“ ist ein abstrahierter Genrefilm, der sein Potential darin besitzt, die „Franz Biberkopf“-Geschichte mit Coming-of-Age-Elementen zu mischen. Im Zentrum steht dabei eine traditionellen Werten verpflichtete Familie, die gerade deshalb zerstörerisch wirkt und keinen Schutzraum für einen Neuanfang birgt.

Der Filmemacher Ömür Atay, Jahrgang 1970 und etablierter Kurzfilm-Regisseur, hat sich bei seinem durchaus stilisierten Spielfilmdebüt „Brothers“ dafür entschieden, die Informationen betont sparsam und eher tröpfchenweise zu exponieren, obschon (fast) alle Figuren wissen, was genau passiert ist. Entscheidend sind hier Körpersprache und Blicke, die zu lesen sind, weil die Dialoge lange Zeit betont konfliktscheu sind.

Die Situation spitzt sich zu, als Yusuf erleben muss, dass seine Mutter ihn für den Tod der Schwester verantwortlich macht und ihm nicht vergibt. Tatsächlich hatte Yusuf seinerzeit die Schwester unter einem Vorwand aus ihrem Versteck gelockt, wo sie dann von Ramazan erschossen wurde. Aber Yusuf nahm den „Ehrenmord“ als Jugendlicher auf sich, um seinem älteren Bruder einen längeren Gefängnisaufenthalt zu ersparen. Yusuf fühlt sich schuldig für seinen Verrat, aber die anderen Männer der Familie haben offenkundig nicht nur keinerlei Gewissensbisse, sondern zudem die Umstände des „Ehrenmordes“ für sich behalten. Es wird deutlich, dass die Familie sich zunächst einmal versichern will, ob auf Yusufs Schweigen auch weiterhin Verlass ist. Auf dem Gelände der Autobahnraststätte steht er unter Beobachtung: er hat lediglich ein Gefängnis gegen ein anderes getauscht. Von Aufbruch und Neuanfang keine Spur!

Das unübersichtliche Leben „draußen“

Randständig in die Erzählung mischen sich auch Momente, die von Heuchelei, Bigotterie und Polizei-Willkür erzählen und die das Leben „draußen“ unübersichtlich und unsicher charakterisieren. Der Film findet für diese „unsichere“ Statik mittels der ruhigen Kameraeinstellungen und der isolierten Innenräume unmissverständlich klare Bilder. Als dann eines Tages eine junge Frau von ihrem Partner auf der Autobahnraststätte zurückgelassen wird, forciert das die Konflikte zwischen den Brüdern. Während Yusuf versucht, Yasemin nach Möglichkeit zu unterstützen, wittert Ramazan zunächst einmal eine günstige Gelegenheit, die junge Frau zu verführen. Eine Waffe kommt ins Spiel.

Yusuf wagt jetzt die offene Konfrontation, während Ramazan nur einmal damit kokettiert, dass er manchmal daran denke, alles hinter sich zu lassen. Aber da sei schließlich auch noch die Familie und die Verantwortung. Ein Teufelskreis, der jetzt nach allen Regeln des Genres ausagiert werden könnte, aber Atay wählt eine elegante Pointe, die ungleich pessimistischer ausfällt als ein dramatischer Shoot-out. Yusuf nimmt sich selbst aus dem Spiel. Gelungene Resozialisierung im Strafvollzug, wofür vielleicht Yusufs verinnerlichte Moral steht, taugt nur in einer Gesellschaft, in der bestimmte zentrale Werte mehr sind als nur die glatt polierte Oberfläche. Davon sind die hier vorgeführten Umstände allerdings weit entfernt.

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