Hinter dem Vorhang - Das Bolschoi, die Kunst und der Krieg

Dokumentarfilm | Deutschland 2023 | 83 Minuten

Regie: Philipp Mangold

Das Moskauer Bolschoi-Theater ist neben seiner Stellung als wichtigstes Ballett- und Opernhaus Russlands auch eine Schaubühne für das russische System. Ein Dokumentarfilm erzählt vornehmlich mit Originaltönen und Probenaufnahmen von der Kulturinstitution, deren Hierarchie und Funktionsweise auch als Spiegelung von Putins Russland gedeutet werden. Dabei ergeben sich interessante Einblicke in das autoritäre Gebaren von Regisseuren und künstlerischem Leiter, während die Entstehungsbedingungen des Films eher schwammig bleiben. Auch die nachträgliche Verzahnung mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine wirkt erzählerisch erzwungen. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Kinescope Film/ZDF/arte
Regie
Philipp Mangold · Radik Golovkov
Buch
Philipp Mangold · Radik Golovkov
Kamera
Florian Lampersberger
Musik
André Feldhaus
Schnitt
Agata Welz
Länge
83 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Ein Dokumentarfilm über das Moskauer Bolschoi-Theater und dessen Spiegelung von Putins System in Hierarchie und Funktionsweise.

Diskussion

Das Moskauer Bolschoi-Theater ist neben der Petersburger Eremitage die wohl wichtigste Kulturinstitution in Russland. Wer hier Ballett tanzen oder Opern singen darf, hat es nach den gängigen Maßstäben geschafft. Die Auffassung, wer hier einmal angenommen werde, gehe anschließend auch nicht mehr weg, lässt sich nach einigen Abgängen infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine allerdings nicht mehr halten.

In ihrer Dokumentation „Hinter dem Vorhang - Das Bolschoi, die Kunst und der Krieg“ versuchen Philipp Mangold und Radik Golovkov, einen genaueren Einblick in diesen kulturellen Mikrokosmos zu gewinnen. Die Regisseure lassen aktuelle Verantwortliche des Bolschoi ebenso zu Wort kommen wie ehemalige Protagonisten – den einstigen Leiter der künstlerischen Programmplanung Vadim Zhuravlev oder die frühere Prima-Ballerina Olga Smirnova, die seit Ausweitung des russischen Angriffskrieges auf die gesamte Ukraine 2022 im Ausland lebt. Auch der Autor Wladimir Kaminer trägt einige interessante Beobachtungen bei.

Rigide durchgeführte Proben

Die Dokumentation erzählt über Originaltöne der Protagonisten und Aufnahmen der rigide durchgeführten Proben. Ergänzt wird das Ganze durch Filmschnipsel aus Militärparaden und in Formation fliegenden Kampfflugzeugen. Die durchaus bewährte dokumentarische Methode, auf einen einordnenden Kommentar aus dem Off zu verzichten, lässt in diesem Fall einige Lücken. Als Zuschauer erfährt man zwar, dass das Bolschoi eine staatliche Institution ist. Wie es hier allerdings jenseits der zugänglich gemachten Aufnahmen zugeht, erschließt sich nicht wirklich. Kaum vorstellbar, dass eine solche politisch eingebundene Einrichtung nach außen transparent agiert. Die schon vor dem Krieg zahlreichen Skandale rund um das Bolschoi wie der Säureangriff auf den ehemaligen künstlerischen Leiter Filin (Gegenstand des Dokumentarfilmes „Bolschoi Babylon“) bleiben unerwähnt.

Die im Film fürs Bolschoi verwendete und beliebte Metapher des „Rädchens im Getriebe“ klingt zwar einleuchtend, bleibt aber unspezifisch, solange man die Funktionsweise des Getriebes nicht kennt. Die Behauptung eines Regisseurs, ein „politisch inaktiver Mensch“ zu sein, scheint dagegen auf ein verbreitetes Phänomen zu verweisen: den Wunsch, sich aus dem großen Ganzen einfach raushalten zu können.

Technisch perfekt, ästhetisch konservativ

Künstlerisch setzt das Bolschoi heute einerseits auf technische Perfektion, bleibt ästhetisch aber konservativ. Nacktheit ist verpönt, alte Aufführungsideale werden auf ewig konserviert. „Sobald man das Theater betritt, wird einem klar, wie die zwischenmenschlichen Beziehungen im heutigen politischen System funktionieren“, so Smirnova. Zhuravlev nennt das Bolschoi ein „Abbild des Staates“. Und genau darum geht es dem Film: Über das Porträt der russischen Kulturinstitution vom heutigen diktatorischen Russland zu erzählen. Der künstlerische Leiter Machar Wasijew eignet sich mit seiner ebenso kalten wie unbarmherzigen Art sehr gut dafür, dieses System zu verkörpern. Zitate wie „Bei den Proben sind wir Soldaten und haben Generäle, die diesen Prozess leiten“ oder das Anprangern einer „Form von Sklaverei“ passen ins Bild. 

Nun erscheint der Umgang von künstlerischer Leitung und Regisseuren mit ihrem Personal äußerst streng, entspricht aber einem aus Spielfilmen bereits bekannten Bild des Balletts als unmenschlicher Zurichtungsstätte. Was hieran spezifisch russisch-putinistisch sein soll, erschließt sich nicht ganz. Immerhin erfährt man, dass ausländische Staatsgäste (wenn es diese überhaupt noch gibt) heutzutage nicht mehr ins Bolschoi geladen werden – stattdessen können Oligarchen die altehrwürdigen Räumlichkeiten mieten.

Ein Ballett zur politischen Stimmung

Der zum Zeitpunkt der Dreharbeiten noch amtierende Intendant Vladimir Urin war in seiner Funktion ein Angestellter des russischen Staates. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Urin kurz nach dem 24. Februar 2022 einen offenen Brief gegen den Krieg unterzeichnet hat. Im Dezember 2023 wurde er vom Putin-Freund Valeri Gergijev abgelöst (diese Tatsache kann der offenbar im Herbst 2023 abgeschlossene Film naturgemäß nicht mehr enthalten). Auf wessen Initiative es zurückgeht, die bereits 2021 begonnene Inszenierung des von allen Beteiligten als veraltet angesehenen „Mazeppa“ von Tschaikowski wieder auf den Spielplan zu setzen, wird nicht ganz klar. Es passt jedenfalls gut in die gewünschte politische Stimmung: Dessen ukrainische Hauptfigur verbündet sich gegen das Russische Reich mit den Schweden.

Als für den Film verantwortlicher Sender wird auf der Seite der Produktionsfirma Kinescopefilm neben ZDF und arte auch der halbstaatliche russische Sender Channel One genannt. Ob die Aufnahmen aus dem Inneren des Bolschoi auf diesen zurückgehen, bleibt unklar. Das bei arte angegebene Produktionsjahr 2021 kann jedenfalls nicht stimmen – zu diesem Zeitpunkt war der Krieg noch nicht auf die gesamte Ukraine ausgeweitet worden und Olga Smirnova noch am Theater tätig. Die nachträgliche Verzahnung des Kriegsausbruchs mit dem Mikrokosmos des Theaters wirkt ebenso erzwungen. Trotz dieser Ungereimtheiten ergeben sich dennoch einige interessante Einblicke in das Innenleben dieser in Putins Russland politisch nutzbar gemachten Einrichtung.

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