© Sandra Weller / Berlinale 2022

Im Bauch der Berlinale

Ein Loblied auf jene Bereiche der Berlinale wie die Panorama-Reihe, in denen das Filmfest als Publikumsfestival glänzt

Veröffentlicht am
09. März 2024
Diskussion

Der „Rote Teppich“ liegt am Potsdamer Platz; der Internationale Wettbewerb steht im Fokus der Aufmerksamkeit. Doch das vitale Herz der Berlinale schlägt eher in den Kinos auf dem Ku’damm und in Nebensektionen wie dem Panorama. Hier werden aus Filmen Kinoereignisse, hier gibt es echte Entdeckungen zu machen. Ein Loblied auf jene Bereiche, wo die Berlinale als Publikumsfestival glänzt.


Die Berlinale ist zwar eines der größten (Publikums-)Filmfestivals der Welt, aber sicherlich nicht das attraktivste. Im Berlinale Palast, wo der „Rote Teppich“ zumindest am Abend Glanz verleiht, wird das „normale“ Publikum eher an den Rand komplimentiert. Abseits der Hauptvorstellungen sieht die Festivalmeile ein wenig abgetakelt aus, was weniger am Februarwetter als an den vielen Absperrgittern liegt, die ein Schlendern und Schauen arg erschweren. Das Festival am Marlene-Dietrich-Platz hat viel Charme verloren, seitdem die beiden Multiplexe CinemaXX und Cinestar nicht mehr oder nur noch eingeschränkt zur Verfügung stehen; seither sind dort fast nur noch Film-„Professionals“, aber nicht das Berliner Publikum unterwegs.


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Doch die Berlinale war immer schon mehr als der Wettbewerb. Das Festival geht in die Kiezkinos und in die Peripherie; wenn nötig sogar in riesige Mehrzweckhallen wie die Verti Music Hall. Irgendwie müssen die Zuschauerrekorde ja generiert werden. Dass das Festival an Reiz verloren habe, mag jenen Journalisten so erscheinen, die sich nicht an die Ränder wagen. Denn auch wenn die Berlinale in den Jahren des Hypes um den Potsdamer Platz ziemlich geschunden wurde: Das alte Herz der Berlinale schlägt weiterhin, nur ist es jetzt in den Bauch gerutscht.


Die Musik spielt am Ku’damm

Seit dem Umbau des CinemaXX am Potsdamer Platz sind die Kinos um den Ku’damm mehr denn je zum Premierenort der Sektionen Forum, Berlinale Special und Panorama geworden: das mit dem alten Stoff der 1970er-Jahre bespannte Haus der Berliner Festspiele, das kultige Delphi Kino und natürlich der Zoopalast, bei dem auch im kleineren der beiden Berlinale-Säle das Publikum fast andächtige Ehrfurcht überfällt ob dieses Gesamtkunstwerks. Das sind Kinos, und das ist Festival! Hier spürt man, dass die Berlinale so viel mehr sein kann als „Filme am Fließband“. Die Haptik der Sitze, der verschwenderische Raum über den Köpfen im Saal, der mit schwerem Glitzerstoff gesteppte Vorhang, der im großen Zoo-Palast anfangs die Leinwand verdeckt.

"The Outrun" (© The Outrun)
"The Outrun" (© The Outrun)

Dort hat dann Nora Fingscheidt ihre Hauptdarstellerin Saoirse Ronan einfach mit im Gepäck und bringt sie nach der Premiere von „The Outrun“ mit auf die Bühne. Nicht nur deshalb war die Vorführung der autobiografischen Tour de Force einer Trinkerin einer der frühen Höhepunkte. Auch wenn der Film mit dem forschen Durcheinanderwirbeln der Erzählebenen einiges abverlangt. Doch das Ausharren, Staunen und Mitfiebern lohnt sich, weil die virtuose Montage und die von Saoirse Ronan berührend gespielte Protagonistin eine mitreißende Allianz eingehen.


Großes Gefühlskino

Höhepunkte gab es im Zoo-Palast zuhauf. Schon der Eröffnungsfilm der Panorama-Sektion bot einen Überfluss der Gefühle. Bauchkino auf vielfache Weise. „Crossing“ von Levan Akin führt auf die Spuren einer alten Frau, die nach ihrer Nichte sucht. Von einem Dorf in Georgien führt sie ihre Suche in den Moloch Istanbul. Dass die Nichte mal ein Junge war und die alte Tante von einem mittellosen Twen begleitet wird, die beide völlig überfordert durch die ghettoisierten Stadtviertel irren, ist spannend und originell. Bewegend wird der Film durch die Würde, mit der die Schauspielerin Mzia Arabuli ihrer Rolle ein Gesicht gibt. Als sie nach der Premiere mit Regisseur Levan Akin auf der Bühne des Zoo-Palastes stand, fand die gänzlich überwältigte Darstellerin keine Worte. Akin nahm ihr das Reden ab und sagte fast beiläufig: „Ich wollte eine Darstellerin, die (mich) an Anna Magnani (aus den Pasolini-Filmen) erinnert.“

Das Panorama ist spätestens seit der Ägide von Manfred Salzgeber auch eine Heimstadt des ausschweifenden schwul/lesbischen Films. Und des Absurden. Dazu zählt „Andrea lässt sich scheiden“, in dem der filmemachende Satiriker Josef Hader seinem Heimatland Österreich einmal mehr wohlwollend-bissig den Spiegel vorhält. Birgit Minichmayr und Thomas Schubert erinnern als Polizisten ein wenig an Petra Kleinert und Bjarne Mädel aus der Serie „Mord mit Aussicht“. 

Josef Hader (Mitte) mit seinem "Andrea lässt sich scheiden"-Cast vorm Zoo-Palast (© IMAGO / Future Image)
Josef Hader (Mitte) mit dem Ensemble von "Andrea lässt sich scheiden" (© IMAGO / Future Image)


Dass sie ungewollt ihren ungeliebten Mann überfährt, während sich ihr Kollege in seiner neuen Leitungsposition überfordert fühlt, ist nur eine der vielen Facetten der munteren Dramödie. Das Ensemble hatte sichtlich Spaß und das Berliner Publikum durchaus Mühe, das Österreichisch mit englischen (Festival-)Untertiteln zur Gänze zu verstehen. Minichmayr war auch den (Lach-)Tränen nahe, als sich ein Zuschauer hernach nach der „deutschen Version“ des Films erkundigte.


Unter die Gürtellinie

Sex & Crime dürfen im Panorama ebenfalls eine tragende Rolle spielen. Dabei geht es auch mal hart zur Sache wie im Möchtegern-Kunst-Porno „The Visitor“ von Bruce LaBruce, mal deutlich subtiler wie in „Sex“ von Dag Johan Haugerud. Der norwegische Regisseur lässt gleich zu Beginn einen glücklich verheirateten heterosexuellen Schornsteinfeger in einer zehnminütigen Einstellung von einem homoerotischen Erlebnis mit einem Kunden erzählen. Sein Gegenüber ist ebenso verdutzt wie das Publikum, das die beeindruckendste Einführung in ein Familiendrama seit Ingmar Bergmans „Szenen einer Ehe“ miterlebt. Auch wenn „Sex“ das inszenatorische Niveau dann nicht immer halten kann.

"Sex" (© Motlys)
"Sex" (© Motlys)

Dass das Publikum mit einem Film so gar nicht mitgeht, ist eher die Ausnahme, selbst wenn sich der unspektakuläre Krimi „Verbrannte Erde“ von Thomas Arslan allen gängigen Genremechanismen widersetzt. Auf der riesigen Leinwand bleiben auch die im Gegenlicht oder in der Dunkelheit palavernden Akteure aus „Verbrannte Erde“ von allen 781 Plätzen gut zu erkennen.

Dass das deutsche Kunstkino auch in seiner dramatischsten Ausprägung gut aussehen und brillant inszeniert sein kann, beweist „Alle die Du bist“ von Michael Fetter Nathansky, der kein Liebesfilm, kein Sozialdrama, keine Familientragödie und auch kein Psychogramm eines kranken Menschen, sondern von allem etwas ist. Insbesondere aber ist es großes Kino, das in einer virtuosen Montage der Zeitebenen die Geschichte von Nadine und Paul erzählt. Sie liebt ihn, droht ihn aber zu verlieren, weil er sich immer mehr in seinen Angststörungen verliert. Deutlich gemacht wird das, indem Paul (Carlo Ljubek) durch drei weitere Darstellende (Kind, Jugendlicher, Mutter) als Personifikationen unterschiedlicher Gemütszustände verkörpert wird. Psychothriller, Coming-of-Age-Geschichte und Emanzipationsdrama changieren dabei ineinander, weil es in gleichem Maße um Nadine (Aenne Schwarz) geht, die sich als Quasi-Betriebsrätin im Braunkohle-Revier durchschlägt. Ein meisterlicher Film, dessen Applaus nicht enden wollte.


Ein deutsches Krimi-Highlight

Den Abschluss der Panorama-Sektion markierten vier Einstünder der True-Crime-Reihe „ZEIT Verbrechen“, frei nach dem gleichnamigen Podcast des Wochenmagazins. Gut dreißig Filmschaffende pro Folge waren nach den jeweiligen Vorstellungen auf der Bühne, was den Zoo-Palast einmal mehr zum Toben brachte. Ein Grund dafür war aber auch, dass das deutsche Filmschaffen ein Anthologie-Format stemmen kann, das die Handschrift von vier eigenwilligen Regisseuren trägt, deren Beiträge sowohl autark als auch in Kombination funktionieren.

Hier wird nicht eingeblendet, dass es sich um die Verfilmung von Podcasts handelt, die wiederum auf Gerichtsakten fußen. Das Publikum muss auch nicht wissen, dass es sich um „wahre Begebenheiten“ handelt noch wie „die Fälle“ vielleicht weitergingen. Die einzelnen Folgen bieten allesamt fesselnde Unterhaltung, die lange nachwirkt. Niederschmetternd wie in dem von Markiko Minoguchi inszenierten „Dezember“ um Ignoranz und Polizeiwillkür. Wild, unverschämt und verwackelt wie bei Jan Bonnys „Der Panther“ um einen wahnsinnigen Informanten. Erotisch aufgeladen wie bei Faraz Shariats Abzockerfilm „Love by Proxy“. Oder absolut meisterlich als Tragödie wie in dem Selbstjustiz-Drama „Deine Brüder“ von Helene Hegemann.

Aus der Episode "Love by Proxy" aus "ZEIT Verbrechen" (© Viacom International)
Aus der Episode "Love by Proxy" aus "ZEIT Verbrechen" (© Viacom International)

Während man am Potsdamer Platz ein ganzes Viertel absperrt, um all die VIPs und „Oscar“-Preisträger ins Kino zu schleusen, schlendert man im Westen der Stadt auf dem Weg zum nächsten Film im Zoo-Palast noch beim Delphi Kino vorbei – und trifft dort im Saal auf Festivalleiter Carlo Chatrian, die Editorin Thelma Schoonmaker und den mit dem Goldenen Bären für sein Lebenswerk ausgezeichneten Martin Scorsese, die zusammen mit Regisseur David Hinton die Weltpremiere von dessen Doku „Made in England: The Films of Powell andPressburger“ feiern. Das ist der Charme, das ist der Bauch der Berlinale.

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