© imago/teutopress (Peter Lilienthal)

Zum Tod von Peter Lilienthal

Nachruf auf den Regisseur Peter Lilienthal (27.11.1927-28.4.2023), der aus seinen eigenen Fluchterfahrungen die Kraft für ein humanistisches Filmschaffen bezogen hat

Veröffentlicht am
04. Mai 2023
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Der Filmemacher Peter Lilienthal war ein aufgeweckter, mutiger Künstler, der in den 1960er-Jahren beim Fernsehen begann und dabei radikale Werke schuf, weil die Figuren darin sich nicht alles erklären konnten. Mit dokumentarischer Genauigkeit und leiser Komik spürte er den Widersprüchen der Menschen nach und achtete auf kleinste Gesten und Gebärden. Im Alter von 95 Jahren ist er am 28. April in München gestorben.


Peter Lilienthal, der am 28. April 2023 im Alter von 95 Jahren in München starb, begann Anfang der 1960er-Jahre, als Filmregisseur zu arbeiten. Bis ins Jahr 2007, als er seinen letzten Film fertigstellte, realisierte er viele Dokumentar- und Spielfilme. Vor allem durch seine Kinofilme wie „Es herrscht Ruhe im Land“ (1975), „Der Aufstand“ (1980) und „Das Autogramm“ (1984) wurde er in Deutschland bekannt; diese und weitere Filme spielen in Lateinamerika und schilderten die damaligen Verhältnisse in den dortigen diktatorischen Systemen.

Lilienthals Nähe zu Südamerika ist die Folge einer Fluchtgeschichte; seine Mutter floh mit ihm 1939 aus dem nationalsozialistischen Deutschland, in dem sie und ihr Sohn als Juden vom Tod bedroht waren. 1955 kehrte Lilienthal (und wenig später seine Mutter) aus dem Exil in Uruguay, wo er eine Banklehre absolviert hatte, nach Deutschland zurück. In Berlin studierte er nach einem abgebrochenen Wirtschaftsstudium an der Hochschule der Künste freie Kunst. Hier realisierte er seinen ersten Film: „Im Handumdrehen verdient“.


Anfänge beim Fernsehen

Dieser Dokumentarfilm über einen Leierkastenmann, der zugleich als Filmvorführer arbeitet, trug ihm einen Job als Regieassistent beim damaligen Südwestfunk in Baden-Baden ein. Wenig später wurde er als Hausregisseur engagiert, der Schauspielinszenierungen bekannter Theaterregisseure für die Live-Übertragung oder später für die Aufzeichnung mit mehreren Kameras einrichtete.

Bald konnte er eigene Filme realisieren, oft nach Stücken des absurden Theaters, also von Autoren wie Fernando Arrabal oder Slawomir Mrozek. 1965 kehrte er dem Sender und der badischen Provinz den Rücken und ging nach Berlin zurück. Als freier Regisseur arbeitete er vor allem für den Sender Freies Berlin.

Vielversprechend: "Der Beginn" aus dem Jahr 1966 (imago/United Archives)
Vielversprechend: "Der Beginn" aus dem Jahr 1966 (© imago/United Archives)

So entstand 1966 der Spielfilm „Der Beginn“, dessen Drehbuch von dem Schriftsteller Günter Herburger stammte. Ein junger Mann, der sich nicht entschließen kann, die Lehrstelle anzunehmen, die ihm der Vater in einem Großbetrieb vermittelt hat, stromert durch West-Berlin. Er trifft sich mit Freunden, besucht eine Party, lernt eine Sängerin aus Jugoslawien (Dunja Rajter) kennen, deren Leben aber so gar nichts vom Glamour der Medien und des Pop-Business verströmt, sondern eher von Kleinganoven bestimmt zu sein scheint. Er träumt davon, nach Spanien zu gehen und dort in einem Hotel zu arbeiten. Aber was er wirklich will, weiß er auch am Ende des Films nicht.

„Der Beginn“ lebt von der dokumentarischen Beobachtung einer in die großstädtische Wirklichkeit transponierten fiktiven Geschichte. Manche Personen spielen sich selbst, was den Realismus zusätzlich erhöht. Ein rauer, unsentimentaler Film, der von einer gewissen Melancholie umschattet ist.

In anderen Filmen dieser Zeit durchwirkt Lilienthal den in „Der Beginn“ entwickelten Realismus mit Genre-Elementen. In „Tramp“ (1968) wird ein Mann zufällig in einen Kriminalfall verwickelt, aus dem er nicht mehr hinausfindet; gedreht in Südeuropa, registriert der Film vor allem Oberflächen, seien es die der kargen Landschaft oder die der Gesichter der Menschen, die dort leben. In „Horror“ (1969) geht es um eine Art Psychose, die einen Jungen befällt, der glaubt, seinen Vater bei einem Brand nicht geholfen zu haben, und der seitdem sein Sehvermögen eingebüßt hat; der Film sucht in der Bildgestaltung eine Entsprechung für den Sehverlust des Jungen und findet milchige, etwas unscharfe Einstellungen, über die ein Schleier gelegt scheint.

Seine Fernsehfilme aus dieser Zeit interessieren sich, wie er selbst 1968 in einem Gespräch sagte, für „Menschen, die nicht alles erklären können. Wir sind umgeben von einer Welt, die ständig alles erklärt, wo jeder immer so gut Bescheid weiß.“ Lilienthals Protagonisten wissen hingegen nicht alles, sie versuchen Dinge und liegen mit ihren Einschätzungen und Verhaltensweisen mal richtig, öfter aber falsch. Es ist ihnen oft eine gewisse Vergeblichkeit des Handelns eingeschrieben. Lilienthals Fernsehfilme der 1960er-Jahre eignet eine Radikalität, die heute kaum noch möglich erscheint, seitdem die fiktionalen Werke der Fernsehsender auf einen mittleren Realismus und auf einen permanenten Erklärmodus normiert wurden. Man könnte es auch anders sagen: Lilienthal testete aus, was im Fernsehen dieser Zeit möglich war.


Der Geist des Widerspruchs und der Skepsis

Mit „Malatesta“ (1970) begann der Regisseur vor allem fürs Kino zu arbeiten; allerdings waren an den Spielfilmen meist auch Fernsehredaktionen des ZDF oder des WDR und in Fall von „Malatesta“ der SFB beteiligt. Die historische Titelfigur von Lilienthals Kinoerstling ist ein aus Italien stammender, zur Handlungszeit von 1920 in London lebender Anarchist, der von jungen Aktivisten in deren Debatten um Aktionen und Gewalt hineingezogen wird.

Malatesta wird von Eddie Constantine gespielt, der zur damaligen Zeit wegen seiner Lemmy-Caution-Filme, aber auch dank Godards „Alphaville“ ein Star war. Lilienthal stellt die Zeit, in der die Handlung spielt, so dar, dass er den Look der monochromatischen Filmbilder den eingeschnittenen historischen Fotos angleicht. Der Film behauptet nicht, Geschichte visuell und erzählerisch zu rekonstruieren. Er gleicht eher einem Gedächtnisstrom visueller Details und Fragmente.

Dass Teile des Films asynchron sind, verstärkt den Eindruck des Unwirklichen, in der Malatesta wie ein Geist aus der Vergangenheit wirkt. Der Filmkritiker Wilhelm Roth führte die Synchronmängel in einem Text in der Zeitschrift „Filmkritik“ auf handwerkliches Ungeschick zurück. „Der Film wurde auf Ampex [also ein Videoformat] überspielt; ein Ampexschnitt ist, im Gegensatz zum Filmschnitt, eine komplizierte Sache. So sieht man genau, wo SFB-Intendant Barsig sich entrüstet hat, das Bild kippt einmal durch.“

Malatesta ist ein Geist des Widerspruchs und der Skepsis. Norbert Grob hat ihn deshalb zur „Lilienthal-Figur per excellence“ erklärt. Ähnliches gilt auch für den Geschäftsmann, den Joe Pesci in „Dear Mr. Wonderful“ (1983) spielt, der mehr an seinen Gesangsauftritten in der eigenen Bar interessiert ist als an den Geschäften, was ihm am Ende den Verlust seiner beruflichen Existenz einträgt.

"Dear Mr. Wonderful" mit Joe Pesci (imago/Everett Collection)
"Dear Mr. Wonderful" mit Joe Pesci (© imago/Everett Collection)

Der in New York spielende Film fängt die dortige Stadtlandschaft wie nebenbei ein, erzählt so aber von Immobilienspekulationen, die vor allem arme Menschen um ihren Wohnraum bringen. In seinem Blick auf die Stadt (Kamera: Michael Ballhaus) ähnelt „Dear Mr. Wonderful“ Filmen des New Hollywood, etwa Barbara Lodens „Wanda“ oder den frühen Filmen von Jim Jarmusch.


Hinaus in die Welt

Lilienthal drehte in den USA ebenso selbstverständlich wie in Südamerika oder Portugal, das in „Das Autogramm“ den Hintergrund für ein lateinamerikanisches Städtchen abgab. Unter den deutschen Spielfilmregisseuren, die mit ihm Ende der 1960er-Jahre für das Kino zu arbeiten begannen, war Peter Lilienthal der Internationalist. So brachte er den deutschen Zuschauerinnen und Zuschauern die Verhältnisse der lateinamerikanischen Militärdiktaturen nahe, die beispielsweise das chilenische Experiment eines Sozialismus unter Salvador Allende mit Gewalt beendet hatten.

Mit der deutschen Geschichte beschäftigte sich Lilienthal nur in einem seiner Kinofilme. In „David“, der 1979 den „Goldenen Bären“ gewann, erzählt er auf der Grundlage eines autobiografischen Berichts, den Ezra Ben Gershom unter dem Namen Joel König veröffentlicht hatte, von der Vernichtung der deutschen Juden durch die Nazis. Die jugendliche Titelfigur entkommt dem NS-Terror mit einem falschen Pass und einem vorgetäuschten Dienstauftrag ins Ausland. Seine Familie aber wird ermordet.

Viele Szenen aus „David“ haben sich dem kollektiven Gedächtnis eingeschrieben, etwa der Moment, als jüdische Kinder, die von Polizisten zur Deportation nach Polen weggeführt werden, sich vor Betreten der Bahnhofshalle in einer Geste der Solidarität die Hände auf die Schultern legen.

Eva Mattes und Mario Fischel in "David" (imago/United Archives)
Eva Mattes und Mario Fischel in "David" (© imago/United Archives)

In einem Gespräch, das Egon Netenjakob 2001 mit Lilienthal führte, berichtete der Regisseur von der diskriminierenden Erfahrung mit dem staatlich organisierten, aber von weiten Teilen der Gesellschaft getragenen Antisemitismus. Eines Tages hätte ein Schild an der Tür eines Eisladens gehangen, in dem seine Familie Stammkunde war: „Zum ersten Mal las ich das Schild ,Für Juden...‘ - ich glaube, es stand da: ;... und Hunde – Eintritt verboten!‘“ Er fragte seine Mutter, wo sie zukünftig Eis essen würden. „Sie antwortete: ,Ab jetzt machen Juden ihr Eis zu Hause.‘“ Lilienthal beendet die kurze Erzählung mit dem Satz: „Aha. So hatte ich das Bewusstsein, wenn man jüdisch ist, macht man das Eis zu Hause.“


Ein Freund der Literatur & der leisen Komik

In einem Drehbuch, dem das Fernsehen seine Zustimmung versagte, berichtete Lilienthal sehr zurückhaltend und doch pointiert von seinen Erfahrungen, die er nach seiner Rückkehr Ende der 1950er-Jahre als Jude in Deutschland sammelte. Er hatte als Studentenjob die Rolle eines Weihnachtsmannes angenommen, der in Familien die Kinder zu beschenken, aber auch zu tadeln und zu loben hatte. Als er sich vorab den Familien vorstellte, hätte er erklärt, dass er als „jüdischer Weihnachtsmann“ den Kindern nicht mit der Rute drohen werde. Wie die Familien darauf reagierten, hält das Drehbuch, das Michael Töteberg in seinem Buch „Peter Lilienthal. Befragung eines Nomaden“ auszugsweise vorstellt, in mal komischen, mal absurden Szenen fest. Der Film wäre, so Lilienthal, „sehr weit weg von den kritischen Betrachtungen des lieben Eberhard Fechner oder des Herrn Monk“ gewesen, deren Filme ihm immer „sehr deutsch“ vorgekommen seien.

Peter Lilienthal war ein aus Deutschland stammender Weltbürger. Ein Freund der Literatur und der leisen Komik, der die Widersprüche in den Menschen liebte und der in seinen Filmen auf die kleinsten Gesten und Gebärden auch der Sympathie und der Solidarität achtete. Er war ein Einzelgänger, der immer wieder Bündnisse schloss; so war er an der Gründung des Filmverlags der Autoren beteiligt und etablierte in der Akademie der Künste in Berlin die Sektion Film- und Medienkunst.

Dort stieg er nach elf Jahren aus, als ihm die Politik der Akademie nach der Wiedervereinigung zu sehr nach Restauration aussah und die Institution sich zu sehr selbst feierte. Er habe, erzählte er auf einer Veranstaltung der Zeitschrift „Revolver“, statt einer großen Feier zum 300-jährigen Bestehen der Akademie 1996 eine Veranstaltung vorgeschlagen, die jene porträtiert, die von dieser Akademie im Lauf der Geschichte nicht aufgenommen worden seien. Eine Idee, in der sich das filmische Werk von Peter Lilienthal gleichsam spiegelt.


Literaturhinweise

Peter Lilienthal. Von Norbert Grob. In: Thomas Koebner (Hrsg.), Filmregisseure. Biografien, Werkbeschreibungen, Filmographien. Mit 104 Abbildungen. Reclam Verlag, Stuttgart 1999. S. 414-415.

Welche Farbe hat das Grau? Begegnung mit Peter Lilienthal. Von Werner Kließ. In: Film, November 1968. S. 18-22.

Peter Lilienthal, Blick ohne Augen. Auszug aus der Dokumentation einer Podiumsdiskussion an der Universität Bochum. In: Filmkritik, Nr. 5/1968. S. 388-389.

Peter Lilienthal, Warum Europa?. Protokoll eines Gesprächs, das am 5. Oktober 2000 stattfand. In: Revolver, Heft 7. Online abrufbar.

Peter Lilienthal. Von Egon Netenjakob. In: TV-Filmlexikon. Regisseure, Autoren, Dramaturgen. 1952-1992. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1994. S. 244-246.

In paradiesischen Zeiten. Peter Lilienthal. In: Es geht auch anders. Gespräche über Leben, Film und Fernsehen. 25 Porträts von Regisseurinnen und Regisseuren, Redakteurinnen und Redakteuren, Produzenten und einer Cutterin. Von Egon Netenjakob. Stiftung Deutsche Kinemathek, Verlag Bertz, Berlin 2006. S. 99-120.

Malatesta. Von Wilhelm Roth. In: Filmkritik, Nr. 7/70. S. 390.

Befragung eines Nomaden. Peter Lilienthal. Hrsg. von Michael Töteberg. Verlag der Autoren, Frankfurt am Main 2002.

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