© imago/Future Image (Justine Triet)

Die Fiktionen der anderen - Justine Triet & „Anatomie eines Falls“

Annäherungen an das Gerichts- und Ehedrama „Anatomie eines Falls“ von Justine Triet, der in Cannes in diesem Jahr mit der „Goldenen Palme“ ausgezeichnet wurde

Veröffentlicht am
22. November 2023
Diskussion

In dem in diesem Jahr in Cannes mit der „Goldenen Palme“ ausgezeichneten Drama „Anatomie eines Falls“ von Justine Triet geht es nicht nur um die Klärung eines Todesfalls. Vielmehr kreist der Film furios um gesellschaftliche Rollen- und Beziehungsvorstellungen und ein sehr zeitgemäßes Aufeinanderprallen unvereinbarer Wahrnehmungen und Anschauungen. Wahr und falsch, Fiktion und Wirklichkeit, Liebe und Egoismus lassen sich dabei nicht immer trennscharf voneinander unterscheiden.


Von Sandras Herkunft wissen wir nur wenig. Ihrem Anwalt gegenüber spricht sie von einem „Shithole“, einem Kaff in der deutschen Provinz, dem sie als junge Frau entkommen sei. Sie ist nach London gegangen, hat Karriere als Schriftstellerin gemacht und Samuel kennengelernt, der an der Universität unterrichtet und auch schreiben will. Ein Seelenverwandter, sagt sie, nachdem sie sich von Freunden und Familie nie wirklich verstanden gefühlt hat.

In ihrer Zeit in London bekommen Sandra (Sandra Hüller) und Samuel (Samuel Theis) einen Sohn: Daniel (Milo Machado Graner). Als Kind hat Daniel einen Unfall und verliert sein halbes Augenlicht. Hohe Krankenhausrechnungen werden zur finanziellen Belastung, während sich in der Beziehung erste Risse zeigen. Auf Drängen von Samuel ziehen sie vom teuren London in die französischen Alpen, in die Heimat von Samuel. Dort erwerben sie ein Chalet, das er bis zuletzt aufwendig restauriert. Sandra, eine überzeugte Großstädterin, kommt mit, ist aber wenig begeistert. Für sie, sagt sie ihrem Anwalt (Swann Arlaud) später, schließt sich ein Kreis: von der Provinz in die Provinz, „from shithole to shithole“. Bis Samuel eines Tages aus dem obersten Fenster stürzt.

"Anatomie eines Falls" von Justine Trier (Plaion Pictures)
Der Ausgangspunkt von "Anatomie eines Falls" (© Plaion Pictures)


Eine Ehe und ihr Niedergang

Die Beziehung zwischen Sandra und Samuel ist der eigentliche Gegenstand von Justine Triets Drama „Anatomie eines Falls“, für den die französische Regisseurin in diesem Jahr mit der „Goldenen Palme“ in Cannes ausgezeichnet wurde. In dem Kriminal- und Gerichtsfilm wird zwar ein Todesfall seziert (wie in Otto Premingers „Anatomie eines Mordes“ von 1959, auf den der Titel anspielt), es geht aber vor allem um eine Ehe und ihren Niedergang. Dabei werden auch ideale gesellschaftliche Rollen- und Beziehungsvorstellungen aufgelöst. So etwa die Idee der großen Liebe. Oder dass eine Frau ohne Partner kein vollkommenes Leben führen kann. Oder sich zwischen Karriere und Familie entscheiden muss.

Der Beruf der Schriftstellerin und die Rolle als Partnerin und Mutter sind hier vielmehr untrennbar miteinander verbunden, ohne dass sie eine harmonische Einheit bilden würden. Für Sandra, die Schriftstellerin, bilden Partner und Sohn ebenso eine fundamentale Gegebenheit wie ein unlösbares Problem; für den Schriftsteller Samuel gilt dasselbe. Wie in den Filmen von Maurice Pialat ist bei Justine Triet gerade das Vertraut-Häusliche ein Hort der Unruhe, der Feindseligkeit und Fremdheit, des Zirkulierens gewaltsamer und unversöhnlicher Affekte. Die Figuren werden in ihrem Heim gegeneinander geschleudert, wie in einem Orkan. Sie stehen damit auch im Zentrum aktueller gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, die weit über das Paar und ihre vier Wände hinausgehen.

War Samuels Tod ein Unfall? Oder Selbstmord? Gar ein Mord? Niemand hat etwas gehört oder gesehen; der Film umkreist den Vorgang wie eine Leerstelle. Kurz vor dem Fenstersturz ihres Gatten gab Sandra einer jungen Studentin aus Grenoble im Wohnzimmer ein Interview, während dem der auf dem Dachboden arbeitende Samuel die Musik laut aufdrehte und die Frauen das Gespräch abbrechen mussten. Der Song, der in voller Lautstärke durchs Haus donnert, ist „P.I.M.P.“ des Rappers 50 Cent, was die Ermittler als Provokation interpretieren, als Botschaft des Mannes an seine Frau. Andererseits handelt es sich um eine Karaoke-Version, ohne die misogynen Lyrics, womit die Bedeutung nur hineingelesen werden kann. In jedem Fall wird dadurch klar, dass Feminismus und Misogynie durchaus als Themen des Films gelesen werden können. Fast so, als würde Triet suggerieren, dass heutige Zuschauer:innen diese Zusammenhänge von sich aus erkennen, ohne durch die Inszenierung darauf gestoßen werden zu müssen.

In glücklicheren Tagen: XX und Sandra (Plaion Pictures)
In glücklicheren Tagen: Samuel und Sandra (© Plaion Pictures)

Indem Triet die Lyrics von 50 Cent nicht ausbuchstabiert, lädt sie das Publikum dazu ein, seine eigenen Gedanken, Diskurse und Fragen in den Film mitzunehmen. Diskurse, die heute überall zirkulieren, denen sich kaum mehr jemand entziehen kann. Die aber, selbst wenn sie eindeutig scheinen („Frauenfeindlichkeit!“), es dann oft doch nicht sind, sondern vielmehr auf komplexe Gemengelagen verweisen, also auf Leerstellen, in denen geschwiegen wird, zumal dieses Schweigen hier dröhnend laut ist; ein Schweigen, in das andere (die Zuschauer:innen des Films ebenso wie die Personen im Film) ihre Diskurse und Interpretationen überhaupt erst hineintragen können, ohne es jemals endgültig zu füllen oder erklären zu können.


Was ist Lüge, was die Wahrheit?

Warum sollte Sandra ihren Mann umgebracht haben? Weil er sie mit seiner Musik nervt? Weil sie ihn nicht mehr ertragen kann? Als Hauptverdächtige steht sie ein Jahr nach den Ereignissen vor Gericht, der Prozess nimmt die monumentale zweite Hälfte des Films ein. Dabei lässt Triet die Wahrheit niemals absolut werden; sie zeigt, dass sie nur aus subjektiven Standpunkten besteht. Die klassische Frage danach, was Lüge ist und was Wahrheit, tritt zurück hinter ein sehr zeitgemäßes Aufeinanderprallen unvereinbarer Wahrnehmungen, Weltanschauungen und Wirklichkeiten – und hinter die Dynamik eines Paares, in dem sich traditionelle Rollenzuschreibungen umgekehrt haben.

Schon die anderen Filme von Justine Triet, „Victoria“ und „Sibyl“, beide mit Virginia Efira in der Hauptrolle, sind von starken, erfolgreichen Frauen geprägt, die eingespannt sind zwischen familiären Zwängen und ihrem beruflichen Vorankommen, während die (damit dann auch irgendwann unzufriedenen) Männer in Nebenrollen eher unterstützend tätig sind. Aber keine dieser Figuren war so opak wie Sandra. Wie die von Cate Blanchett verkörperte Dirigentin in „Tár“ ist die Schriftstellerin eine erfolgreiche Künstlerin mit problematischem Verhalten, die rücksichtslos ihre Karriere verfolgt. Im Kino der Post-MeToo-Ära sind die faszinierendsten Frauenfiguren nicht mehr einfach nur Opfer, sondern selbst auch (potenzielle) Täterinnen. Samuel wird hingegen als frustriert und psychisch fragil gezeichnet. Nach dem Unfall des Sohnes nimmt er Tabletten und besucht einen Therapeuten, der vor Gericht aussagt, dass Sandra ihrem Mann die Schuld für Daniels Unfall gegeben und ihn zur Strafe unbewusst am Schreiben gehindert habe. Auch Samuel hat einen Roman vorbereitet, ohne damit voranzukommen und sich eher um Daniel gekümmert. Später wirft er Sandra vor, ihm seine besten Ideen gestohlen zu haben.

Dass zwischenmenschliche Beziehungen in erster Linie Ressourcen für Fiktionen sind, ist bei Triet nicht neu. Die Anwältin in „Victoria“ kämpfte gegen einen Ex-Freund, der ihr Liebesleben in einem Blog im Internet ausplaudert; die Therapeutin in „Sibyl“ beutete die Geschichte ihrer Patientin aus, ebenfalls für ein Buchprojekt. In „Anatomie“ formen das Private und Beruflich-Öffentliche jedoch eine wirkliche Einheit. Sandra schlachtet nicht nur die Ideen ihres Mannes aus. Im Zuge der Rückblenden während des Prozesses, der divergierenden Standpunkte, Indizien und Rekonstruktionen wird ihre Ehe hier selbst zu einem Produkt der Fiktion, die immer wieder auf ihren Wahrheitsgehalt befragt werden muss. Ein ums andere Mal verteidigt Sandra in Interviews die Freiheiten der Fiktion gegenüber der Wirklichkeit, betont, dass der Blick in ihren Romanen nur ihrer Version der Wirklichkeit entspricht und ein subjektiver Ausschnitt aus einem Beziehungsleben niemals für dessen ganze Wahrheit einstehen kann.


Im Reich der Fiktionen

Die Fähigkeit zu erzählen wird für die sprachgewaltige Frau zum Instrument ihrer beruflichen wie persönlichen Souveränität. Indem sie fast nur Englisch spricht, versucht sie, die Realität im sie umgebenden französischen Kontext zu modifizieren. Es geht darum, Kontrolle über das Narrativ zu erlangen, zu dem ihre Ehe geworden ist. So als würde Triet mit Sandras Figur, ihrer Sprache, ihrer Geschichte und ihren Geschichten fragen: Welche Geschichten erzählen wir uns, in unseren Beziehungen, Familien und Partnerschaften, über diese Beziehungen, uns selbst und unsere moralische Überlegenheit? Wie sprechen wir über all das? In welcher Sprache, in welchem Idiom, mit welchen Absichten? Und auf welche Weise entstellen wir dabei immer auch die Realität?

Vor Gericht: "Anatomie eines Falls" (Plaion Pictures)
Vor Gericht: "Anatomie eines Falls" (© Plaion Pictures)

Aus der intimen Konstellation der Beziehung schlägt der Film eine Brücke in gegenwärtige feministische Diskurse mit ihren sprachlichen Sensibilitäten. Im Zeugenstand verlangt die (ledige) Studentin, mit „Madame“ und nicht mit „Mademoiselle“ angesprochen zu werden, weil sie nicht auf ihren Familienstand reduziert werden möchte, während ihre Bezeichnung als „attraktive Frau“ durch den Staatsanwalt von Sandras Anwalt als „sexistisch“ eingestuft wird. Sprache kann zur Waffe werden, gerade in dieser Verhandlung, in der sie sich immer wieder auch gegen Sandra wendet. Vor allem in Form einer Audiodatei, aufgetaucht auf dem Handy von Samuel, auf der ein furchtbarer Streit zwischen ihm und Sandra am Tag vor seinem Tod zu hören ist.

Dabei geht es um die gerechte Aufgabenverteilung im Rahmen ihrer Kleinfamilie. Samuel beklagt sich, nicht mehr genug Zeit zum Schreiben zu haben. Sie rät ihm, sie sich zu nehmen. Er wirft ihr vor, ihn dabei nicht zu unterstützen – jemand muss sich ja um Daniel kümmern. Ihrer Meinung nach gibt es keine vollkommene Gleichheit in einer Beziehung. Nachdem sie ihn in die französische Provinz begleitet hat, hat sie nicht das Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein.


Die Quadratur des Kreises

Auflösen lässt sich dieses Doppelleben als Schriftstellerin und Teil einer Sorgestruktur für Sandra nur in einer Quadratur des Kreises: Beide Partner sollen vollkommene Freiheit genießen, die dennoch von einem der beiden geopfert werden muss, wenn es weiter eine Beziehung und eine Familie geben soll. Unabhängigkeit und Rücksicht auf andere erweisen sich für Sandra als kaum vereinbar. Ihre Auseinandersetzung wird auch handgreiflich, offenbart im Kern aber eine unauflösbare Ungleichheit, ein Dilemma, eine Imperfektion, die viele Sorgegemeinschaften auszeichnet – selbst und gerade dann, wenn ihre Mitglieder und Partner:innen eigentlich um die Herstellung von Gleichheit bemüht sind.

Da man als Zuschauer:innen im Gegensatz zu den Teilnehmer:innen an der Gerichtsverhandlung die Streitszene tatsächlich sehen kann, wird man gleichsam mit einer „blinden“ Szene konfrontiert, die von niemandem beobachtet werden kann – außer von uns. So als würde der Film kurzzeitig das Spektakel des Prozesses verlassen und aus sich herausspringen, um das unsichtbare, im Hintergrund mitlaufende „strukturelle“ Theater nicht nur dieser, sondern auch anderer Beziehungen sichtbar zu machen. Der „Tod“ eines Partners entspricht nicht erst seinem Sturz aus dem Fenster, sondern seiner schleichenden Auslöschung aus der angestrebten Gleichung, in der die Aufgaben idealtypisch 50:50 verteilt werden.

Sandra Hüller in "Anatomie eines Falls" (Plaion Pictures)
Sandra Hüller in "Anatomie eines Falls" (© Plaion Pictures)


Ohne Alternative

Gerade in Samuels Tonaufnahme, die zur Vorbereitung eines neuen Buchprojektes entstand, verbindet sich eine imperfekte zwischenmenschliche (Sorge-)Beziehung mit dem Herstellungsprozess einer Fiktion. Erst vor dem Hintergrund dieser Fiktionalität kann die Suche nach der Wahrheit der Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse in dieser Beziehung anheben. Gleichzeitig macht es diese Suche unmöglich, nicht irgendwann doch wieder in die Fiktion zurückzufallen. So wird die vom Gericht bestellte Aufpasserin für Daniel dem Jungen vor dessen Vorladung in den Zeugenstand erklären, dass es wichtig ist, sich dafür zu entscheiden, was man glaubt. Diese einsame Entscheidung zu treffen, die eigene (soziale) Rolle in dieser Welt zu definieren, um sich fortan mit den Fiktionen der Anderen zu konfrontieren, die der eigenen unversöhnlich gegenüberstehen: dazu gibt es fortan keine Alternative mehr.

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