© imago/ZUMA Wire (John Carney)

Alles im Fluss - John Carney

Ein Gespräch mit dem irischen Regisseur John Carney über seinen jüngsten Film „Flora and Son“

Veröffentlicht am
23. Oktober 2023
Diskussion

Der irische Regisseur John Carney begann seine Karriere als Bassist der Rockband „The Frames“ und dreht nebenbei die Musikvideos der Gruppe. Mit „Once“ (2006) belang ihm der Durchbruch als Filmemacher. Auch in seinem jüngsten Film „Flora and Son“ spielt die Musik und das Musikmachen eine zentrale Rolle.


Der irische Musiker und Filmemacher John Carney wurde 1972 in Dublin geboren und begann seine Karriere als Bassist der Rockband „The Frames“ Den Sprung zum Filmemachen gelang ihn über eine Reihe von Musikvideos für seine eigene Band. Den Durchbruch als Filmemacher schaffte er 2006 mit dem Spielfilm „Once“. Mit „Can a Song Safe Your Life? (2013) und „Sing Street“ (2016) setzte er seine von Musk geprägten Geschichten fort. Neben seinen Arbeiten fürs Kino arbeite er auch für Fernsehserien wie „Bachelors Walk“ oder „Modern Love“. Seine jüngst musikalische Filmromanze „Flora and Son“ ist bei Apple TV+ zu sehen.


Sie sind wahrscheinlich der beste Gesprächspartner, wenn man sich für den Einsatz von Musik und Songs als Elemente fürs filmische Geschichtenerzählen interessiert. In „Flora and Son“ gibt es so viele wunderbare Schichten, die alle mühelos ineinander verwoben sind: die Mutter-Sohn-Beziehung, der Zoom-Love-Interest, der Ex-Ehemann mit seinen Bosheiten und all die anderen Charaktere. Wie viel Arbeit steckt darin, so etwas zu schreiben?

John Carney: Die beste Art von Kunst verbirgt, dass es sich überhaupt um Kunst handelt. Die besten Künstler sind jene wie etwa Picasso, der wirklich alles malen konnte, dies aber nicht ausstellte. Oder Musiker, die sich geradezu schämen würden, mit ihrem Können anzugeben. Die sich nicht anmerken lassen wollen, wie viel Arbeit in einem musikalischen Meisterwerk steckt. Wenn es sich „einfach“, fast kindlich anfühlt, dann ist das für mich die größte Leistung von Kunst. Das ist wie wenn man einen Vogel beim Fliegen zusieht. Es sieht simpel und nachvollziehbar aus, so als ob man das selbst auch könnte, aber natürlich kann man nicht fliegen. Ich möchte die ganze Arbeit, die in einem Film steckt, verbergen. Das ist etwas, was mich künstlerisch wirklich umtreibt.

Sie haben in „Flora and Son“ ein tolles Ensemble versammelt, um den Film im Sinne des Visual Storytellings umzusetzen. Ihre fantastische Hauptdarstellerin Eve Hewson ist in der Lage, einfach alles mit ihrem Gesicht auszudrücken. Sie ist ein junges Mädchen, eine liebevolle Mutter, eine verschmähte Ex-Frau, sie ist tough, sanft, verwundbar. Wie haben Sie dieses Talent gefunden?

John Carney: Ich kannte Eve Hewson schon von früheren Projekten her, da war sie noch ein wenig jünger. Aber Sie haben recht; ihr Gesicht hat dieses unverwechselbare Moment, das man gar nicht so einfach in Worte fassen kann. Wir vergessen allzu leicht, wie sehr es beim Filmemachen um menschliche Gesichter geht, welche Macht ein Gesicht in einem Film haben kann. Denken Sie etwa an Greta Garbo. Bei jemanden wie Eve Hewson geht es wirklich mehr um ihr Gesicht als um ihre Schauspielkunst. Wobei sie wirklich eine tolle Schauspielerin ist.

Eva Hewson in "Flora and Son" (Apple Studios)
Eva Hewson in "Flora and Son" (© Apple Studios)

Außerdem ist sie lustig. Da gibt es keinen Misston, nichts. Es ist kein Widerspruch, dass ein schönes Gesicht auch lustig sein kann. Oder verrückt aussehen und Dinge ausprobiert kann. Ich wusste, dass der Charakter der Protagonistin Flora genau das sein: lustig und komisch in einer Vielzahl von Szenen. Hewson war davon nicht eingeschüchtert.

„Flora and Son“ scheint in der Tradition von Geschichten wie „Pygmalion“, „My Fair Lady“ oder „Educating Rita“ zu stehen. Verbunden mit der Idee, dass ein Song Leben retten oder ein Leben lebenswert machen kann. Wie sind sie auf diese bezaubernde Vision gekommen?

John Carney: Ich finde es interessant, dass Sie an „Pygmalion“ und „Educating Rita“ denken. Mir war die Nähe zu diesen Filmen durchaus bewusst, als ich mit dem Drehbuch anfing. Ich hatte aber keinesfalls eine musikalische Version dieser Art von Geschichte im Sinn. Und es geht schon mal gar nicht darum, die Rolle des Mannes zu hinterfragen oder nach einer Schuld des „Mannes“ zu suchen. In der Art, dass er diesem naiven Mädchen erklärt, wie es in der Welt zugeht. Wenn die beiden anfangen, miteinander zu arbeiten, wollte ich die Zuschauer erst auf eine falsche Fährte locken. Für einen kurzen Moment denkt man, diese Art von Geschichten kenne ich doch. Aber Flora hat in dieser Zusammenarbeit viel einzubringen; sie hilft Jeff bei seinen Songs, sie steuert viel zu seiner Arbeit und seinem Leben bei, was er überhaupt nicht erwartet hatte.

Hat das nicht doch gewisse Ähnlichkeiten zu „Pygmalion“? Ähnlich wie bei „Flora and Son“ gibt es ja auch bei „Pygmalion“ oder „Educating Rita“ kein Happy End.

John Carney: In „Educating Rita“ tut die Protagonistin nicht wirklich viel, damit er sich in sie verliebt oder von ihr bezaubert ist. Es geht mehr um eine platonische Beziehung zwischen einem Literaturprofessor und einer Frau aus der Arbeiterklasse. Ich weiß nicht einmal, ob sie am Ende wirklich etwas zu Papier bringt. Ich jedenfalls wollte ich eine Version fürs 21. Jahrhundert drehen. Flora muss deshalb unbedingt etwas machen. Sie muss schöpferisch tätig sein oder etwas Bedeutendes beitragen. Es reicht nicht mehr, nur lustig und geistreich zu sein, selbstironisch und eine Irin aus Dublin. Also flucht sie und bringt ihn zur Verzweiflung, trägt aber auch wirklich etwas Wesentliches zu seinem Leben bei, eben durch die Dinge, die sie von ihm gelernt hat. Er gibt ihr die Gabe, Musik zu machen, und sie kommt damit durch ihren Sohn wieder zu ihm zurück. Sie gibt ihm die Idee für seinen Song und die weitere Zusammenarbeit. Damit habe ich sicher nicht das Rad neu erfunden. Ich verstehe meine Filme aber überhaupt eher als Gefühlszustände denn einfach nur als Geschichten. Die Story muss deshalb schlicht von A nach B nach C und dann nach D führen.

Ich finde Ihre Verbindung zwischen traditionellem Storytelling und modernen Elementen faszinierend. Für mich ist „Flora and Son“ ein Film, der mit seiner Online-Beziehung sehr genau die Post-Corona-Welt darstellt. Es ist nicht mehr notwendig, im gleichen Raum zu sein, im gleichen Land; es ist möglich, auf einem anderen Kontinent zu wohnen und in einer anderen Zeitzone und dennoch dem anderen gedanklich ganz nahe zu kommen.

John Carney: Das ist faszinierend. Aber wie wird das unsere Welt verändern? Was macht das mit den Menschen? Wie verändert es das Denken? Würde unser Gespräch anders verlaufen, wenn ich Sie auf einem Filmfestival getroffen hätte und wir uns in persona unterhalten würden? Ich habe Sie jetzt online getroffen. Inwieweit habe ich aber wirklich getroffen? Welcher Art sind diese Meetings? Es ist ja schon ein gewaltiger Unterschied zwischen einem Telefonanruf und einem handgeschriebenen Brief.

Eva Hewson (l.), Orén Kinlan in "Flora and Son" (Apple Studios)
Eva Hewson (l.), Orén Kinlan in "Flora and Son" (© Apple Studios)

Ich denke, dass ich hier Ihr Gesicht sehe, dass wir uns beide ansehen können. Natürlich können wir uns nicht die Hände schütteln oder uns umarmen, aber wir können Gedanken und Ideen problemlos austauschen. Fast so, als wenn wir auf einem Festival in einem Raum voller Journalisten wären.

John Carney: Ja, das ist, als ob sich Sigmund Freud und Gustav Mahler auf Zoom unterhalten würden. Wäre das nicht eine tolle Idee für einen Film?

Was halten Sie eigentlich von einem schmalzig-schönen Hollywood-Happy-End? Haben Sie das schon mal in Betracht gezogen?

John Carney: Mein nächster Film wird wohl etwas in diese Richtung tendieren. Weil es die Story bedingt! Nur deswegen. Für mich ist es wirklich okay, dass es Hollywood-Endings gibt. Wenn es die Story braucht. Aber wenn man ein Happy End nur deshalb konstruiert, um eine Geschichte zu Ende zu bringen, dann ist das falsch! Ich glaube, dass das Ende eines Films eine Entscheidung des Regisseurs und Autors darstellt, die Geschichte an diesem Punkt zu stoppen. Aber es ist ja nicht wirklich das Ende. Es gibt kein Ende von Geschichten. Wir hören vielleicht auf, uns durch ein bestimmtes Problem durchzuarbeiten. Aber Geschichten enden nicht. Alles entwickelt sich konstant weiter. Die Welt, die Erde, die Zivilisationen enden niemals, sie entwickeln sich immer weiter und bleiben im Fluss. Das Ende eines Films ist nur die Entscheidung: Hier drücke ich auf Pause! Hier ist der Moment, den ich wähle, dass der Vorhang sich senkt.

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