© Alamode („Im letzten Sommer“)

Das Verlangen entsteht im Kopf - Catherine Breillat

Interview mit der französischen Regisseurin Catherine Breillat über ihren Film „Im letzten Sommer“

Veröffentlicht am
12. Februar 2024
Diskussion

Die französische Regisseurin Catherine Breillat gilt als Provokateurin, die mit ihren freimütigen Darstellungen von weiblicher Sexualität und den Widersprüchen zwischen den Geschlechtern regelmäßig aneckt. Ihr neuer Film „Im letzten Sommer“ (ab 11.1. im Kino) greift die Beziehung einer 50-jährigen Anwältin mit ihrem 17-jährigen Stiefsohn auf. Ein Gespräch über Tabus, Widerspruchsgeist und die Anreicherung einer fremden Vorlage mit eigenen Vorstellungen.


Sie haben vor „Im letzten Sommer“ zehn Jahre lang keinen Film mehr gedreht. Wird es für Sie schwerer, Geld für einen Film zu bekommen?

Catherine Breillat: Ich habe in Frankreich den Ruf, unfinanzierbar zu sein. Ich sei eine „Has-been“, also eine, die quasi bald stirbt und keinen Film mehr zustande bringt. Ich bin sozusagen in der Vor-Todes-Phase. Man sieht es dem Film durch den sehr kurzen Vorspann auch an: Wir hatten kaum Geldgeber. Als Budget gab es nur das, was in Frankreich über die Kinotickets hereinkommt, also das, was in Deutschland etwa der Filmförderungsabgabe entspricht. „Im letzten Sommer“ hätte eigentlich schon ein Jahr früher entstehen sollen. Da war aber Canal+ noch nicht mit an Bord. Der Produzent Said Ben Said war erstaunt, dass er keine Geldgeber fand, weil er das Drehbuch so toll fand. Von der französischen Filmförderung bekamen wir 450.000 Euro und von Canal+ 400.000 Euro. Darüber hinaus fanden sich keine Geldgeber. Es ist ja bekannt, dass die Franzosen mich nicht sehr mögen.

Catherine Breillat in Cannes 2023 (© IMAGO / ABACAPRESS)
Catherine Breillat in Cannes 2023 (© IMAGO / ABACAPRESS)

Ich kenne Sie und Ihre Filme schon sehr lange, seit „Lolita ‘90“ aus dem Jahr 1987. Es geht in Ihren Filmen hauptsächlich um weibliche Begierde, um weibliche Sexualität, um weibliche Sehnsucht.

Breillat: Das stimmt. Es geht aber auch immer um die Grauzonen des Gefühls oder der Begierde. Es geht um die unklaren Zonen. Das Mädchen aus „Lolita ‘90“ weiß nicht genau, was es will. Ist es eine Begierde? Oder ist es eine Form von Vergewaltigung, die sie will oder über sie kommt? Es geht um das weibliche Gefühl, um die weibliche Begierde, aber auch um die unklaren Zonen, die den Frauen selbst gar nicht klar sind. Die Hauptfigur aus „Lolita ‘90“ ist noch Jungfrau. Das ist für Mädchen ein sehr komplizierter Zustand. Es wird behauptet, dass das erste Mal für einen Jungen nicht so entscheidend sei. Bei all dem Ballast, der mit der „Jungfräulichkeit“ in unserer Gesellschaft verbunden ist, ist das ein Riesending. Das Mädchen wird sich immer daran erinnern, und das verkompliziert die Sache enorm. Das ist auch Thema in meinem Film „Meine Schwester“ (2001). Dieser Themenkomplex zieht sich wie ein roter Faden durch viele meiner Filme.


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Romance“ (1998) war ein sehr offener, sehr freier Film, mit fast schon pornographischen Szenen. Es gibt darin sogar Erektionen zu sehen. Haben Sie bewusst Tabus verletzen wollen? Oder sind das Szenen, die die sexuelle Leidenschaft noch unterstreichen sollen?

Breillat: Ich lehne Tabus nicht ab. Es ist gut, dass es Tabus gibt. Aber ich setze mich immer über sie hinweg. Ich will Tabus nicht abschaffen. Ich brauche sie vielmehr, um sie zu überschreiten. Wenn man mir etwas verbietet, dann mache ich es erst recht. Ich will diese Szenen auch zeigen, damit man sich fragt, warum sie eigentlich verboten sind. Verbote werden in der Regel nicht erklärt. „Das ist nicht gut. Das machen wir nicht. Das ist verboten.“ Dann zeige ich Tabuüberschreitungen, damit man sie sehen kann, um feststellen zu können, warum sie verboten wurden, ob es nötig war, sie zu verbieten. Ich gehe auch immer von der Überzeugung aus: Um sich selbst erkennen zu können, muss man sich wiedererkennen können, das heißt, man muss in seiner Ganzheit dargestellt und erfasst werden. Im Film wird alles, was mit Sexualität zu tun hat, quasi an den Pornofilm relegiert. Dort soll sie aufgehoben sein. Im Spielfilm spielt die Sexualität des Menschen keine Rolle. Im Porno haben wir Sex ohne Seele, Haut ohne Seele, Geschlechtsteile ohne Seele. Im Spielfilm fehlt dieser Aspekt der menschlichen Identität, die zu uns gehört. Es ist eine Verpflichtung, diese beiden Bereiche wieder zu versöhnen und den Menschen in seiner Komplexität, in jeglichem Aspekt der Sexualität, zu erfassen und darzustellen.

Leidenschaft trotz Altersunterschied in „Im letzten Sommer“ (© Alamode Film)
Leidenschaft trotz Altersunterschied in „Im letzten Sommer“ (© Alamode Film)

Könnten Sie das näher erklären?

Breillat: Wir werden in der Gesellschaft eigentlich zweigeteilt. Es wird zwischen Kopf und Unterleib unterschieden. In „Lolita ‘90“ gibt es einen Dialog, in dem die männliche Figur dem Mädchen auf die Stirn deutet und sagt: „Das willst du nicht? Das hältst du nicht aus? Du willst nichts anderes als das.“ Das ist aber miteinander verbunden. Sowohl die Gesellschaft als auch die Zensur versuchen, einen Schnitt zu machen. Wichtig ist, sich immer zu sagen: In unserer menschlichen DNA sind Begierde und Verlangen angelegt. Nur deswegen kann die Menschheit überleben. Die Menschheit kann sich nur durch das Verlangen fortpflanzen. Der sexuelle Akt erzeugt aber kein Verlangen. Die Mechanik des sexuellen Aktes ist von einer sehr begrenzten Vielfalt, sehr repetitiv. Das Verlangen entsteht im Kopf. Wir erzählen uns Geschichten, die das Verlangen stimulieren. Es ist wichtig, dass wir uns diese Geschichten erzählen, damit das Verlangen in Fortpflanzung münden kann. Die Gesellschaft aber versucht beides zu trennen. Körper und Kopf sind aber unteilbar. Davon fühlen sich viele Frauen angesprochen.

„Im letzten Sommer“ beruhte auf „Die Königin“ mit Trine Dyrholm, der erst 2019 in die Kinos kam. Warum nach so kurzer Zeit schon ein Remake?

Breillat: Die Entscheidung lag nicht bei mir. Es war der Produzent Said Ben Said, der das Drehbuch erworben hat. Diese Möglichkeit hätte ich nicht gehabt. „Die Königin“ habe ich auch nicht gesehen. Said Ben Said hat mir diesen Stoff angeboten, obwohl ich schon lange keinen Film mehr gemacht hatte. Er hätte dabei an mich gedacht, weil ich den Stoff vielleicht nicht besser, aber anders inszenieren könne. Dies sei ein Stoff für mich. Ich habe das Drehbuch gelesen und war von der Struktur der Geschichte sofort begeistert, die auf Lüge und Verleugnung basiert. Mir war aber auch klar, dass es viele Dinge gab, die ich anders machen wollte. Ich wollte nicht, dass die Frau das Raubtier und die Verführerin ist. Und ich wollte auch, dass der Junge anders dargestellt wird, „französisierter“, wenn Sie so wollen. Wir sind das Land von Marivaux und Musset. Oder, um es deutscher zu sagen: Er sollte etwas vom jungen Werther besitzen. Es sollte ein Mann sein, der ein romantisches Element miteinbringt, der nicht so ein kleiner Rohling ist wie im dänischen Film. Er sollte der Verführer sein. Aber dass „Die Königin“ auf einem großartigen Drehbuch basiert, ist mir sofort aufgefallen.

Sie haben am Drehbuch gemeinsam mit Pascal Bonitzer geschrieben. Wie muss ich mir diese Zusammenarbeit vorstellen?

Breillat: So viel Zusammenarbeit hat es gar nicht gegeben. Pascal Bonitzer hat mir bei jener Szene geholfen, die zwischen Vater und Sohn spielt. Mir ist es nicht so gut gelungen, die Dialoge zu schreiben. Bonitzer hat sie überarbeitet. Der Produzent Said Ben Said hatte wohl nicht das richtige Vertrauen in das Projekt und bekam Angst vor meiner Subversivität. Darum hat er Bonitzer beauftragt, etwas moralinsaurere Szenen hineinzuschreiben, die ich zum Teil gar nicht gedreht habe. Ein paar haben wir gedreht, aber ich habe sie nicht im Film gelassen. Es war nicht falsch, sie zu drehen, weil sie für die Entwicklung der Figuren sehr hilfreich waren. Erhalten geblieben ist die Vater-/Sohn-Szene. Das war aber nicht der persönliche Einfluss von Pascal Bonitzer, sondern die Bitte des Produzenten, Szenen zu schreiben, die eigentlich gar nicht nötig waren. Ich meine das nicht böse. Ich habe mich immer gut mit Pascal Bonitzer verstanden und bin mit ihm befreundet.

Ein junger Mann erotisiert eine ganze Familie (© Alamode Film)
Ein junger Mann erotisiert eine ganze Familie (© Alamode Film)

Gibt es große Unterschiede zum Drehbuch des Originals?

Breillat: Drei Viertel des dänischen Drehbuchs haben wir übernommen. Ich will gar nicht leugnen, wie wunderbar konstruiert das dänische Drehbuch ist und was ich alles übernommen habe. Das Schlüsselbund ist dringeblieben, der Einbruch auch, die Figuren der Mandantinnen und der Schwester ebenfalls. Die Mechanik des Ablaufs ist wunderbar entwickelt; davon haben wir sehr viel übernommen. Aber auch wenn die Dialoge beibehalten wurden, hat sich deren Sinn und Bedeutung enorm verändert. Den ganzen Film kann man wie ein Lehrstück verstehen: Wie ist das möglich? Es sind dieselben Dialoge, und doch ist es ein anderer Film. Ich gebe viel mehr Emotionen hinein, darauf habe ich mich fokussiert. Die Sätze werden mit einer anderen Bedeutung aufgeladen, wenn sie gesprochen werden, und darum erscheint es wie ein anderer Film. „Im letzten Sommer“ lässt sich eher mit „Teorema“ von Pasolini vergleichen. Der junge Mann erotisiert die ganze Familie, die Mutter, die Töchter, sogar den Vater.

Ich fand den Widerspruch in der von Léa Drucker gespielten Hauptfigur sehr spannend. Sie ist auf der einen Seite sehr empathisch mit ihren Klientinnen, die häufig Opfer sexueller Gewalt geworden sind. Dann aber ist sie auch eiskalt und setzt ihr ganzes Wissen als Anwältin gegen den Jungen ein.

Breillat: Ich wollte zeigen, dass die Entscheidung, die sie treffen muss, schwer ist. Sie will diesen jungen Mann nicht vernichten, sie hat ja Gefühle für ihn, sie ist in ihn verliebt, aber die Familie ist ihr wichtiger. Sie trifft bewusst eine Entscheidung, um das zu retten und zu bewahren, was ihr wichtiger ist. Auch wenn es den Feministinnen nicht gefällt: Sie bittet den Jungen zwar aufzuhören. Aber das reicht nicht immer. Beide Seiten müssen dazu auch in der Lage sein. Sie hat jeden Grund, auf den Jungen sauer zu sein und ihn bei ihrem Ehemann anzuschwärzen. Denn er ist bereit, die Familie zu zerstören. Im Grunde ist es wie in Racines „Phädra“: „Geh! Aber ich hasse dich nicht.“ Das ist der Konflikt: Man will etwas nicht, aber die Gefühle kommen einem in die Quere.

Théo ist bereit, eine Familie zu zerstören (© Alamode Film)
Théo ist bereit, eine Familie zu zerstören (© Alamode Film)

Die Sexszenen im Film sind sehr verhalten, fast keusch inszeniert, mit sehr langen Einstellungen nur auf das Gesicht der Frau. Das scheint mir ein großer Gegensatz zu der Art und Weise zu sein, wie sie Sexszenen sonst inszeniert haben, vor allem in „Romance“.

Breillat: Alle meine erotischen Szenen enden eigentlich stets mit Großaufnahmen der Gesichter. Das gilt selbst für einen Film wie „Romance“. Natürlich sind in „Romance“ die Körper nackter, und das zeige ich auch. Mir geht es aber immer um die viel größere Intimität des nackten Gesichtes. Für die Schauspieler ist das viel intimer. Léa Drucker hatte ein wenig Angst vor den Sexszenen. Als sie dann aber erfahren hat, dass es vor allem Großaufnahmen ihres Gesichts geben wird, war sie erleichtert: „Das kann ich! Ich zeige mein Gesicht.“ Doch so einfach ist es nicht. Das ist viel intimer. Drucker muss diese leidenschaftlichen Gefühle darstellen. Diese Gefühle müssen sich in ihrem Gesicht spiegeln. Mir geht es bei einer Sexszene nicht darum, nur nackte Haut zu zeigen. Daran gewöhnt man sich sehr schnell. Mir geht es um die „Ultra-Intimität“, die sehr viel größere Intimität, wenn sich die Seele im Gesicht spiegelt. Das darzustellen, ist viel aufwändiger und schwerer für die Schauspieler, als sich auszuziehen.

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