© Carole Bethuel (aus „La bête“)

Venedig 2023 - Maestros & Multiversen

Zwischenbilanz beim 80. Filmfestival in Venedig. Mit Notizen zu den Filmen von David Fincher, Bradley Cooper, Bertrand Bonello und Timm Kröger.

Veröffentlicht am
15. September 2023
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Neben spannenden Genrebeiträgen wie Nikolaj Arcels „Bastarden“ und David Finchers „The Killer“ glänzen bei der 80. Mostra unter anderem Bradley Coopers „Maestro“, Timm Krögers „Die Theorie von allem“ und Bertrand Bonellos „La bête“. Eine Zwischenbilanz zur Halbzeit des Festivals in Venedig.


Am Lido sorgte der italienische Schauspieler Pierfrancesco Favino mit Ausfällen gegen Michael Manns Drama „Ferrari“ und die Besetzung von Enzo Ferrari durch den US-Schauspieler Adam Driver für unnötige Wellen. Ein identitäres Aufplustern (italienische Rollen den Italienern!), das ebenso kurzatmig ist wie die „Jewfacing“-Diskussion, die nach der Veröffentlichung des Trailers zum Leonard-Bernstein-Biopic „Maestro“ rund um die Nasenprothese von Regisseur und Hauptdarsteller Bradley Cooper aufgeflackert war; manche überbesorgte Zeitgenossen hatten antisemitische Impulse gewittert. Die fulminante Premiere von „Maestro“ dürfte die Bedenkenträger nun aber beruhigt und Nebensächlichkeiten wie Nasenformen in den Hintergrund gerückt haben. Denn „Maestro“ ist ein ebenso respektvolles wie mitreißendes Sich-Einlassen auf die Künstler-Persönlichkeit und den Menschen Bernstein.


Szenen einer Künstlerehe: „Maestro“

Wobei sich Bradley Cooper insbesondere für die Problematik einer Künstlerehe interessiert. Es geht nicht nur um den Komponisten, Dirigenten und Musiker Leonard Bernstein, sondern vor allem um seine Beziehung zu der Schauspielerin Felicia Montealegre (Carey Mulligan), vom Kennenlernen im New York der späten 1940er-Jahre bis zu ihrem Krebstod im Jahr 1978. Von Kameramann Matthew Libatique fulminant in Bilder übersetzt, entwirft der Film die Geschichte einer Verbindung, die von einem intuitiven Verständnis füreinander getragen wird, in der aber auch Spannungen und Unsicherheiten klimmen, weil Bernstein nicht nur Montealegre liebt, sondern auch Männern zugetan ist.

Bradley Cooper in "Maestro" (Netflix)
Bradley Cooper in "Maestro" (© Netflix)

Cooper zeichnet diese komplexe Beziehung, vom Enthusiasmus der frühen Jahre bis zum endgültigen Abschied durch den Tod als großes Gefühlskino. Anders als in seinem Künstlerdrama „A Star Is Born“, wo Cooper gegenüber der wehleidigen Darstellung der Männerfigur die weibliche Perspektive etwas aus dem Blick geriet, inszeniert er Carey Mulligan als gleichwertiges Gegenüber des von ihm selbst gespielten Protagonisten. Und er verquickt dabei äußerst geschickt Bernsteins musikalisches Wirken mit der Liebesgeschichte. Auch wenn künstlerische Schaffensprozesse, etwa die Interaktion mit Orchestern oder die verbale Auseinandersetzung mit Musik, eher in den Hintergrund treten, funktioniert „Maestro“ sehr gut als Musikfilm, als Hommage an Bernsteins Schaffen, aus dessen Kompositionen sich der Soundtrack speist.


Das Wie triumphiert über das Was

Neben diesem Highlight hielt die erste Hälfte des Wettbewerbs der 80. „Mostra“ nur wenige Enttäuschungen bereit, sondern unterhielt mit inszenatorisch sehr starken, wenngleich inhaltlich eher konventionellen Genrearbeiten. Etwa mit „Bastarden“ von Nikolaj Arcel, einer Art Nord-Western mit Mads Mikkelsen als ehemaligem dänischen Captain, der in der wilden Heide Jütlands das Land kultivieren und eine Kolonie gründen will und dabei an einen adligen Landherrn gerät, gegen dessen autokratisches Unrechtsregime er aufbegehrt.

David Fincher erzählt in „The Killer“ eine geradezu unverschämt unoriginelle Killer-Geschichte um einen Auftragsmörder (Michael Fassbender), der nach einem Missgeschick auf die Abschussliste seiner eigenen Organisation gerät; die Inszenierung aber zelebriert genüsslich den Triumph des „Wie“ über das „Was“, wenn sie dem abgedroschenen Plot und einem Nichts an Charakterentwicklung durch die filmische Kunstfertigkeit Leben einhaucht. Herrlich etwa ein Face-off zwischen Fassbenders Killer und einer von Tilda Swinton gespielten Kollegin, die mittels eines furiosen Monologs um ihr Leben spielt.


„Die Theorie von allem“

Zu den interessantesten Arbeiten gehören bislang neben „Maestro“ und „Poor Things“ jedoch vor allem Filme, die allzu breitgetretene Genrepfade meiden. Dazu zählt „Die Theorie von allem“ von Timm Kröger, einem der wenigen Regie-Newcomer in der „Löwen“-Konkurrenz, wenngleich er in Venedig kein ganz Unbekannter ist, da bereits sein Debütfilm „Zerrumpelt Herz“ (2014) in der Kritikerwoche der „Mostra“ lief. In „Die Theorie von allem“ spielt Kröger mit dem populären Multiversums-Motiv, ohne es jedoch als Steilvorlage für ein weltenübergreifendes Spektakel zu nutzen; stattdessen fungiert es vor allem als großer Ungewissheitsfaktor.

Hanns Zischler in "Die Theorie von allem" (Neue Visionen)
Hanns Zischler in "Die Theorie von allem" (© Neue Visionen)

Schauplatz ist ein Hotel in den Alpen, in das in den 1960er-Jahren ein junger Doktorand (Jan Bülow) und sein garstiger Doktorvater (Hanns Zischler) zu einem Physiker-Kongress reisen. Statt wissenschaftlicher Vorträge gibt es jedoch bald mysteriöse Verwicklungen. Der indische Wissenschaftler, der zu dem Kongress geladen hatte, taucht nie auf, und der junge Doktorand, in dessen Arbeit es um die Vielwelten-Theorie geht, wird von einer faszinierenden Jazz-Pianistin abgelenkt, die plötzlich verschwindet. Als dann einer der Professoren tot im Schnee liegt, der Doktorand den Toten aber alsbald dabei beobachtet, wie der quicklebendig im Zimmer der Pianistin stöbert, ist klar, dass hier etwas nicht im Lot ist. Das könnte auch mit den alten Stollen voller radioaktiver Gesteine zu tun haben, die sich in der Nähe des Hotels befinden.

Es geht Kröger nicht darum, alle Rätsel seiner labyrinthischen Fabel stringent aufzulösen. „Die Theorie von allem“ überzeugt vor allem durch seine flirrende, suggestive Atmosphäre und das Spiel mit Assoziationen. In Schwarz-weiß gedreht, hat man bisweilen den Eindruck, als hätte sich hier die „Twilight Zone“ auf das Davos aus Thomas Manns „Zauberberg“-Romanklassiker gesenkt. Wozu neben der formidablen Bildsprache, die gleichermaßen dem Production Design wie der Kameraarbeit zu verdanken ist, auch der eindrückliche Soundtrack beiträgt, der die kühle Bergkulisse mit einem Gefühl fiebriger Befremdung auflädt.


Das Chaos menschlicher Emotionalität

In Bestform zeigt sich auch Bertrand Bonello mit „La bête“. Die Basis des Films ist eine Geschichte von Henry James rund um einen Protagonisten, den die Vorahnung einer unbestimmten Katastrophe so sehr lähmt, dass er sich nie dem Leben (und der Liebe) öffnet. Bonello greift das Motiv sehr frei auf und macht daraus ein fantastisches, Vergangenheit und Zukunft umspielendes Drama.

Im Jahr 2044 sieht sich eine Frau (Léa Seydoux) genötigt, sich einem futuristischen Verfahren zu unterziehen, um einen begehrten Job zu bekommen. Weil künstliche Intelligenz mittlerweile den Ton angibt, soll das Risiko menschlicher Emotionalität, der irrationale Ballast, den man im Lauf seines (Gefühls-)Lebens angesammelt hat, mittels eines Eingriffs neutralisiert werden, der die emotionale Reaktion auf Erinnerungen (aus früheren Leben) abschwächt. Obwohl sie voller Skepsis gegen das Verfahren ist, unterzieht sie sich der „Reinigung“. Diese beginnt im Jahr 1910, als sie als Gattin eines Puppenfabrikanten in Paris lebt, und setzt sich im Jahr 2014 fort, während sie sich als Housesitterin und angehende Schauspielerin in Los Angeles aufhält. Der Schmerz, den es bei der Prozedur jeweils auszumerzen gilt, hängt beide Male mit einem jungen Mann (George MacKay) zusammen, dessen Leben schicksalhaft mit ihrem verwoben scheint.

George MacKay (l.), Léa Seydoux in "La bete" (Carole Bethuel)
George MacKay (l.), Léa Seydoux in "La bête" (© Carole Bethuel)

Ursprünglich sollte der 2022 tödlich verunglückte Gaspard Ulliel die männliche Hauptrolle spielen; ihm ist der Film nun gewidmet. Der Brite George MacKay entpuppt sich jedoch als sehr guter Ersatz; sein blasses, weiches Gesicht, das die Emotionen so beweglich und ausdrucksvoll wie die Oberfläche eines Teichs spiegelt – und darin irgendwie dem von Lea Seydoux ähnelt –, passt bestens in diesen mäandernd-melancholischen Schwanengesang auf das menschliche Gefühlsleben in all seiner Schmerz- und Lustempfindlichkeit, Brutalität und Zartheit.

Bonello lässt dabei neben dem K.I.-Thema noch andere Themen mit aktueller Resonanz anklingen. So spielt der erste Part in einem überfluteten Paris, dessen bourgeoiser Glanz 1910 durch die Naturkräfte angegriffen wird; die diffuse Katastrophenangst aus der Henry-James-Erzählung konkretisiert sich auf eine Weise, die mit dem Klimawandel korrespondiert. Und 2014 spielt das Thema gewalttätiger Männlichkeit (inspiriert durch den realen Amoklauf von Isla Vista) eine tragische Rolle.

Neben der überbordenden Fülle von Yorgos Lanthimos' „Poor Things“ könnte „La bête“ von Bertrand Bonello damit auf dem besten Weg sein, mit einem „Löwen“ geadelt zu werden.

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