The Ballad of Genesis and Lady Jaye

- | USA/Frankreich 2011 | 75 Minuten

Regie: Marie Losier

Dokumentarfilm über den englischen Performance-Künstler, Musiker und Schriftsteller Genesis Breyer P-Orridge, seine Lebensgefährtin Lady Jaye sowie ihr "Projekt" der Pandrogyne, der kosmetischen und chirurgischen Angleichung ihrer Körper im Rahmen ihrer symbiotischen Beziehung. Das suggestive filmische Porträt erzählt die Lebens- und Liebesgeschichte der beiden Künstler in rauen Bildern und mit rhythmisch-dynamischer Montage; dabei werden altes Filmmaterial und Reinszenierungen zu einer organischen Synthese geführt und runden sich zu einer sperrigen, gleichwohl bewegenden Beschwörung der Liebe zweier Grenzgänger, die auch die Geschichte der Industrial Music und der Underground-Kultur der 1970er-Jahre streift. (O.m.d.U.)
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Filmdaten

Originaltitel
THE BALLAD OF GENESIS AND LADY JAYE
Produktionsland
USA/Frankreich
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Marie Losier Prod.
Regie
Marie Losier
Buch
Marie Losier
Kamera
Marie Losier
Musik
Genesis Breyer P-Orridge · Bryin Dall · PTV3
Schnitt
Marie Losier
Länge
75 Minuten
Kinostart
24.11.2011
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Diskussion
Wenn eine Liebe so grenzüberschreitend gelebt wird wie die zwischen Genesis und Lady Jaye, dann bekommt auch die Normalität des Alltags einen eigentümlichen Glanz, ob die beiden nun wie ein altes Ehepaar durch den Central Park schlendern, eine Garten-Party besuchen oder einfach nur mit der U-Bahn fahren. Selbst vor dem etwas spießigen Ambiente einer Küche macht die Überführung von Kunst in Leben nicht halt. Einmal sieht man Lady Jaye mit zwei Petersilienbüscheln in den Händen einen Cheerleader-Tanz simulieren, später steht der Gründer der britischen Industrial-Gruppe Throbbing Gristle und Kopf von Psychic TV in schwarzer Spitzenunterwäsche und High Heels vor einem dampfenden Kochtopf, während er aus dem Off über die „Sexyness“ von Hausarbeit spricht. Noch die allerletzte Ecke des öffentlichkeitsfernen Bereichs wird hier zum künstlerischen Abenteuer stilisiert. Radikaler und konsequenter als Genesis Breyer P-Orridge hat wohl niemand das Prinzip des Cut-Up auf Kunst, Leben und Körper angewendet. Die von Brion Gysin und William S. Burroughs Ende der 1950er-Jahre für die Literatur entwickelte Methode inspirierte den Musiker und seine Lebens- und Arbeitsgefährtin Lady Jaye, eine ehemalige Domina, zu dem grenzüberschreitenden Projekt, sich mit den Mitteln der plastischen Chirurgie aneinander anzugleichen, gemeinsam zu einer dritten Identität zu werden. Am Ende sollte die anatomische Angleichung beider Körper stehen und damit die Annäherung an einen geschlechtsneutralen Zustand, „Pandrogynie“ genannt. Was sich zunächst wie eine recht extremistische Interpretation von Theorien zu Dekonstruktion, Identitätsauflösung und Gender-Verwirrung anhört, stellt sich in Marie Losiers „The Ballad of Genesis and Lady Jaye“ im Kern als etwas ganz Anderes dar, nämlich als die höchst idealistische Konzeptualisierung einer ebenso leidenschaftlichen wie romantischen Liebe. Wenn etwa die erste Begegnung des Paars in einer entrückten, traumähnlichen Sequenz noch einmal andeutungsweise „nachgespielt“ wird – sie fand im Kerkerverlies einer befreundeten Domina statt, wo Genesis bei einem seiner New-York-Besuche sein Nachtlager aufschlug –, bekommt dieses Erinnerungsbild eine geradezu mythologische Bedeutung: Es ist eben nicht nur Liebe auf den ersten Blick, sondern auch die Geburtsstunde einer beispiellosen Symbiose. Sie seien so verliebt gewesen, dass sie den anderen hätten verschlingen mögen, erzählt Genesis, dessen Metamorphose in ein bizarres Kunstwesen mit aufgepolsterten Lippen und riesigen Brüsten nun in ganz anderem Licht erscheint. Marie Losier erzählt in ihrem Film also vor allem eine große und anrührende Liebesgeschichte, die an den Rändern natürlich auch die Geschichte der Industrial Music und der UndergroundKultur der 1970er-Jahre streift. Zu sehen sind etwa Archivaufnahmen von Konzerten oder auch Ausschnitte provokanter Auftritte, die Genesis innerhalb der radikalen Formation „COUM Transmissions“ machte. Dass aus dem 1950 in Manchester geborenen Neil Andrew Megson irgendwann P-Orridge wurde, eine Kunstfigur, die jede Vorstellung einer authentischen Identität unterläuft, lässt sich nicht zuletzt auch als eine Geste der Selbstermächtigung innerhalb einer autoritären Gesellschaft lesen. Eingeprägt haben sich die Erinnerungen an die von Demütigungen und Gewalt bestimmte Schulzeit in Birmingham, die der Film in Form einer einfachen, aber umso eindringlicheren Reinszenierung wieder aufleben lässt. Dass das Found-Footage-Material und das nachträglich Gefilmte sich bei aller Heterogenität zu einer organischen Synthese zusammenschließt, scheint dabei nur konsequent. Auch Losier verfolgt das Konzept der Verschmelzung, wobei ihre rhythmische, beständig vorwärts treibende und nie zum Stillstand kommende Montage ganz im Sinne des Cut-Up-Prinzips von Burroughs und Gysin konzipiert ist. Natürlich dürfen die beiden Künstler auch in Losiers Film nicht fehlen. Zehn Jahre hätte es gedauert, bis Burroughs ihm endlich die Telefonnummer von Gysin gegeben habe, erinnert sich Genesis. Als er ihn schließlich in Paris aufsuchte, aß er eine ganze Packung „Chocolade Fingers“ auf, während sein „Mentor“ Geschichten aus den legendären Tagen in Marokko erzählte. Gegen Ende verliert der Film ein wenig an Dichte, was wohl daran liegt, dass das Material aus den späteren Jahren – viel Faxen-Machen in die Kamera während der Konzerttour, Backstagebilder etc. – nur schwer mit den unglaublich rohen und direkt wirkenden Aufnahmen der Anfangszeit mithalten kann. Als der Film schließlich den frühen Tod von Lady Jaye erzählt, hinterlässt dieser dann tatsächlich so etwas wie eine Lücke. Auch würde man gerne erfahren, wie sich die Pandrogynie ohne ein symbiotisches Gegenüber fortsetzen lässt, doch um theoretische Konzepte geht es Losier in ihrem sich ganz der Montage und dem Rhythmus verschreibenden Film eben nur peripher. „Ich möchte in Erinnerung bleiben als eine der schönsten Liebesgeschichten aller Zeiten“, habe Lady Jaye einmal zu ihm gesagt, so Genesis – ein Wunsch, der sich mit „The Ballad of Genesis and Lady Jaye“ wohl erfüllt haben mag.
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