Don't Worry About India

Dokumentarfilm | Schweiz/Deutschland 2024 | 98 Minuten

Regie: Nama Filmcollective

Ein indischer Filmemacher kehrt 2019 aus Europa in sein Heimatland zurück. Während der sechswöchigen Parlamentswahlen reist er durchs Land und erfährt dabei auch Unerwartetes über seine eigene Familie. Diese führt als Mitglied einer höheren Kaste von jeher ein privilegiertes Leben mit Bediensteten, die für sie arbeiten. Mit lakonischem Humor kommentiert der Filmemacher die Erkenntnisse und verwebt sie mit den Beobachtungen einer zunehmend gespaltenen indischen Gesellschaft. Der von einem Kollektiv gedrehte Film wirft Fragen nach seiner dokumentarischen Authentizität auf; nichtsdestotrotz liefert er treffsichere Schlaglichter auf das heutige Indien. - Ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
DON'T WORRY ABOUT INDIA
Produktionsland
Schweiz/Deutschland
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Catpics/Tamtam Film/SRF
Regie
Nama Filmcollective
Buch
Nama Filmcollective
Kamera
Nama Filmcollective
Musik
Michael Sauter
Schnitt
Pola König
Länge
98 Minuten
Kinostart
06.06.2024
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Dokumentarfilm über einen indischen Filmemacher, der während der Parlamentswahlen im Jahr 2019 durch sein Heimatland reist und mit unangenehmen Fakten über seine Familie und eine gespaltene Nation konfrontiert wird.

Diskussion

„Don’t Worry About India“ beginnt mit einem sechsminütigen Vorspann. Diese blendet bis in die Zeit von Mahatma Gandhi zurück und rollt bruchstückhaft die politische Geschichte Indiens sowie die Familiengeschichte des Protagonisten auf. Dieser tritt im Film als Ich-Erzähler in Erscheinung. In den Credits wird sein Name mit Arjun jr. angegeben. Seine Eltern gehören zur ersten Generation, die nach dem Ende der Kolonialherrschaft im unabhängigen Indien aufwuchs. Sie kennen sich seit der Kindheit, sind in einem Dorf in ländlicher Region aufgewachsen und in jungen Jahren nach Bombay gezogen. Die Wirtschaft boomte, die Demokratie funktionierte. Der Vater war im IT-Bereich tätig, die Mutter in der Werbung. In Arjuns Erinnerung waren die in seine Kindheit und Jugend fallenden Wahlen eine Art Volksfest. Überhaupt ist das Indien seiner Kindheit ein fröhliches Land, dessen Jahreskalender entsprechend der Vielzahl der im Land vertretenen Religionen gespickt war mit religiösen Feiertagen.

Er habe eine ganz normale indische Kindheit erlebt, meint Arjun jr. Seine Eltern waren nicht sonderlich religiös und dachten liberal; allerdings wurde in der Familie über Politik nicht gesprochen. Als Arjun jr. und seine Schwester die Schule beendet hatten, emigrierte die Familie in die USA, damit die Kinder eine bessere Ausbildung bekommen. Das Experiment scheint – was im Film nicht näher erläutert wird – nicht sonderlich erfolgreich verlaufen zu sein. Nach einigen Jahren zogen Arjuns Eltern wieder in ihre Heimat zurück; Arjun selbst ging nach Europa. Von der Schwester ist im Film fortan nicht mehr die Rede.

Zurück zu den Wahlen 2019

Erzählt wird dieser informationsreiche Anfang über Fotos aus dem Familienalbum, mit Home Movies, teilweise auch mit Archivmaterial, in einem bunten, in seiner munter mäandernden Zufälligkeit aber auch unmittelbar in Bann ziehenden Patchwork.

Der nach dem Titel „Don’t Worry About India“ einsetzende Rest behandelt dann ausschließlich das Jahr 2019. Arjun jr. lebt inzwischen in Europa und ist Filmemacher geworden. Er hat sich immer wieder vorgenommen, seine Eltern zu besuchen, das aber bis 2019 nicht gemacht. Nun steht die nächste Wahl des Ministerpräsidenten an; der Hindu-Nationalist Narendra Modi bewirbt sich um eine zweite Amtszeit.

Indien hat sich in den Jahren nach Arjuns Wegzug stark gewandelt. Die Städte und Häuser sind größer geworden, die Bevölkerung ist explodiert, die Wirtschaft brummt. Doch es gibt zunehmend auch Arbeitslosigkeit und Umweltverschmutzung. Eine Reihe von innenpolitischen und religiösen Auseinandersetzungen haben zur gesellschaftlichen Spaltung und zu einem politischen Rechtsrutsch geführt. Arjuns Eltern sind pensioniert. Der Vater spielt stundenlang am Computer Bridge, die Mutter führt den Haushalt und überwacht die Bediensteten, den Fahrer und die Raumpflegerin. Zwischendurch geht sie zum Yoga. Man redet in der Familie über vieles, aber noch immer nicht über Politik.

Schon immer eine höhere Kaste

In dieser Situation beschließt Arjun jr., dem sich im Lauf von sechs Wochen etappenweise durchs Land bewegenden Wahlprozedere zu folgen. Er will seiner ihm fremd gewordenen Heimat den Puls fühlen, übers Land verstreut wohnende Verwandte und Freunde besuchen, gleichzeitig einen Dokumentarfilm drehen, oder, wie es im Film heißt, einen Heimatfilm über den Wahlkampf. So reist er quer durch Indien, von Delhi nach Tamil Nadu, über Varanasi nach Mumbai. Er besucht einen Onkel, der sich nach seiner Pensionierung dem Golfsport verschrieben hat, und einen anderen Onkel, der während seiner Militärkarriere Uniform trug und sich täglich rasieren musste. Danach legte er sich einen Hof zu, wo er am liebsten nur mit Lendenschutz bekleidet herumläuft und seinen Bart munter sprießen lässt.

Dieser Onkel ist der einzige echte Bauer der Familie. Denn wie sich beim Besuch im Dorf der Großeltern herausstellt, gehörte Arjuns Familie seit jeher einer höheren Kaste an. Schon auf dem Land von Arjuns Großeltern arbeiteten deren Angestellte aus niedrigerer Kaste. Was der Film als nach wie vor geltende Praxis beschreibt. Manchmal klingt in „Don’t Worry About India“ eine leise Lakonie an, welche die muntere Aufforderung des Titels immer mehr infrage stellt.

Arjun jr. richtet seine Kamera nicht nur auf Angehörige seiner Familie und Zufallsbekanntschaften, sondern gezielt auch auf (ehemalige) Angestellte seiner Eltern wie den Fahrer, der ihn fünf Jahre lang zur Schule chauffierte, den einstigen Koch der Familie und einen Caddy. Sie reden deutlich freier über die politische und religiöse Situation im Land. Etwa über den wachsenden Nationalismus und die Tatsache, dass sich in Varanasi nicht mehr alle, sondern nur noch Hindus im Ganges waschen dürfen.

Wie dokumentarisch ist das Ganze?

Für Drehbuch und Regie zeichnet das 2019 in Mumbai gegründete Nama Filmcollective verantwortlich, dem eine unbekannte Anzahl namentlich nicht genannter Filmschaffender aus Indien und Europa angehören. In Indien, so steht es in den offiziellen Informationen zum Film, sei die Situation für Filmschaffende und Journalist:innen in den letzten Jahren immer schwieriger geworden. Das Kollektiv biete den am Film Beteiligten Privatsphäre und Sicherheit und spiegle zugleich den kollaborativen Geist des Films.

Das mag seine Berechtigung haben. Doch es irritiert und macht misstrauisch, wo es um die Glaubwürdigkeit des Dokumentarischen geht. Denn wer „garantiert“, dass in einem Dokumentarfilm, in dem Namen nicht genannt und Personen nicht identifiziert werden, ein als Onkel des Regisseurs eingeführter Mann tatsächlich dieser ist? Und zeigen die in alten Familienfilmen vorkommenden Personen tatsächlich deren Eltern in jüngeren Jahren? Sind diese identisch mit den Personen in den 2019 gedrehten Aufnahmen? Das Vorgehen der Filmemacher löst zahlreiche Überlegungen aus, um die der Film nicht herumkommt.

In jedem Fall ist „Don’t Worry About India“ ein persönlicher, zugleich aber auch sehr politischer Film. Er zeugt von innerpolitischen und religiösen Grabenkämpfen und porträtiert eine von Neoliberalismus und populistischer Politik gespaltene Gesellschaft. Die Republik Indien ist offiziell immer noch eine Demokratie, straft diese Bezeichnung aber wachsend der Lüge. Als Arjun zu seinem filmischen Trip aufbricht, bittet ihn seine Mutter, mit seinen Verwandten nicht über Politik zu sprechen. Der Grund dafür ist, dass sie und ihr Mann sich bei solchen Themen nie einig sind. Gut, dass ihr Sohn den Mut besitzt, ihrer Bitte nicht nachzugeben. Denn wie soll man Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeit aus dem Weg räumen, wenn man darüber nicht sprechen kann?

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