Das geschriebene Gesicht

Dokumentarfilm | Schweiz/Japan 1995 | 89 Minuten

Regie: Daniel Schmid

In einer Mischung aus Dokumentation und sehr persönlichem Essay werden traditionelle japanische Darstellungsformen beobachtet, wobei im Zentrum ein Porträt des Kabuki-Schauspielers Tamasaburo Bando steht, der als Interpret von Frauenrollen höchste Verehrung genießt. Um ihn herum ranken sich betagte "Legenden" verwandter Künste und geben Einblick in Bereiche des Tanzes, der Musik sowie der Geisha-Kunst. Eine von Aufmerksamkeit und Respekt geprägte Annäherung an fremdartige Spiel- und Ausdrucksformen, denen der Film stets ihr faszinierendes Mysterium beläßt. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
THE WRITTEN FACE
Produktionsland
Schweiz/Japan
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
T & C Film/Euro Space
Regie
Daniel Schmid
Buch
Daniel Schmid
Kamera
Renato Berta
Musik
Dieter Meyer · Yukio Kajitani · Nobuyuki Kikuchi
Schnitt
Daniela Roderer
Darsteller
Tamasaburo Bando · Han Takehara · Haruko Sugimura · Kazuo Ohno · Yaguro Bando
Länge
89 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Sein Film spiele, so Daniel Schmid, "in einem Kabinett der Zeichen, wo die Verwandlung eines Gesichtes auch eine Zeichenverschiebung bedeutet"; er habe einige dieser Zeichen einer fremden Welt andeuten wollen, letztlich "unfähig, sie wirklich zu begreifen". Schmid reiste im Herbst 1994 nach Japan, drehte auf den Inseln Kyushu und Shikoku, in Osaka und im Hafen von Tokyo, wo er bedeutenden Vertreterinnen und Vertretern traditioneller japanischer Theaterformen begegnete. Sie und ihre Kunstfertigkeit beobachtet er in einer fließenden Melange aus Dokumentation und sehr persönlichem Essay, sich dabei selbst stets als Eindringling verstehend, der zwar mit seiner Kamera "drinnen vor der Tür" ist, dennoch aber nie wirklich hineingelangt in die "verspiegelte Fremde" dieser japanischen Künste. Im Zentrum des Films steht Tamasaburo Bando, ruhmreicher Kabuki-Schauspieler, höchstverehrt als Onnagata, als Darsteller von Frauen, die sich bereits seit dem frühen 17. Jahrhundert nicht mehr selbst spielen durften. Aufmerksam beobachtet Schmid seine Bühnenauftritte, die er quasi aus dem Dunkel zu faszinierend ätherischen Bewegungsspielen aufsteigen läßt, wobei das Mysterium des fremdartigen Spiels selbst dann noch bewahrt bleibt, wenn sich die Kamera hinter die Bühne begibt und einige Tricks des Kostüm- und Lichtwechsels "entlarvt".

Nur langsam, sehr behutsam gleitet der Film aus dieser Theaterwelt hinaus, um den Schauspieler hinter der mit dicker Schminke aufgetragenen, kunstvoll verfeinerten Maske zu entdecken. Der wiederum reflektiert hochsensibel über die Bedeutung seines Spiels, erinnert u.a. auch an Hollywood, das in vergleichbarer Weise aus manchen Frauen "ablesbare Kunstfiguren" gemacht hätte, so daß Greta Garbo oder Marlene Dietrich "wirklicher als wirkliche Frauen" gewirkt hätten. "Ich spiele mit den Gefühlen und den Augen eines Mannes eine Frau", erklärt Tamasaburo Bando. "Ich versuche, das Idealbild einer Frau zu zeigen. Nicht eine Frau, sondern die Andeutung der Essenz der Frau. Das ist Onnagata, nicht wahr?" In solchen und anderen Ausführungen heben sich - ähnlich wie in Bandos Bühnenspiel - ganz allmählich die Grenzen auf: die Grenzen zwischen den Geschlechtern, zwischen Tradition und Moderne, zwischen Bühne und "Wirklichkeit". In eher zu erahnenden als genau zu bezeichnenden Nuancen gibt sich ein ganz eigener Kosmos zu erkennen, ein Spiel mit dem Körper und seiner Sprache; die Maske wird zum beredten Gemälde, kleinste Gesten berühren als Ausdruck fragiler Poesie. "Enthüllungsdramatik vom menschlichen Wechsel zwischen Wahrheit, Rolle, Traum und Maske im Leben", hieß es 1985 in der fd-Rezension zu Schmids "Der Kuß der Toska" (fd 24 956); "eine Welt, in der die Rituale, die Regelmäßigkeiten die Zeit anhalten", beschrieb Schmid 1992 in "Zwischensaison" (fd 30 543) - ganz allmählich spürt man auch die Kontinuität in Schmids filmischem Erzählen, seine ebenso sanfte wie beharrliche Neugier, mit der er sich immer wieder in seine "Zwischenwelten" begibt.

Um Tamasaburo Bando herum plaziert Schmid Kurzporträts sogenannter Idole, berühmter Repräsentanten anderer, (wesens-) verwandter kultureller Ausdrucksformen im klassischen Japan: Kazuo Ohno, bedeutender Butoh-Tänzer (dem bereits Peter Sempel in "Just Visiting This Planet", fd 29 303, ein filmisches Denkmal setzte), tanzt, scheinbar auf dem Wasser schwebend, seine seltsam-bizarren Bewegungen vor einer nächtlichen Hafenkulisse; die Schauspielerin Haruko Sugimura, ein fast: das ganze Jahrhundert beinflussender und mitprägender Bühnen-und Filmstar, reflektiert u.a. über das Kino; zwei Geishas und Tänzerinnen, beide große Berühmtheiten, erzählen von der Kunstfertigkeit ihres Berufes und verbinden dies mit tänzerischen und musikalischen Beispielen ihres Könnens - alles ohne jeden Anflug von Selbstgefälligkeit, sondern zurückhaltend, höflich, fast scheu und verlegen, daß man ihnen solche Aufmerksamkeit entgegenbringt. Dabei ist keine dieser "Legenden" jünger als 88 Jahre, Asaji Tsutakiyokomatusu ist mit 101 Jahren gar die älteste Geisha Japans. Alter aber spielt angesichts ihrer aller Präsenz nur eine Nebenrolle: Auch die Grenzen zwischen Alt und Jung zerfließen angesichts ihres Lebens für die Kunst, ihres Lebens letztlich auch in der Künstlichkeit. Diese dokumentarischen Szenen verbindet Schmid mit einer Montage, die deutlich dem Spielfilm entnommen ist und dem Zuschauer eigene Zusammenhänge assoziiert. Tamasaburo Bando scheint dabei seine eigenen Auftritte zu beobachten, bevor er später selbst zum Hauptdarsteller in einer kleinen Spielsequenz ("Twilight Geisha Story") wird, die Schmid in Anlehnung an Kenji Mizoguchi als zurückhaltendes Melodram inszeniert - eine Verbeugung vor der Bühnen- wie Filmkunst, aber auch der Geisha-Kunst Japans.

Letztlich wird nicht nur Daniel Schmid, sondern auch der Zuschauer unfähig sein, die fremde Welt, in die er eintaucht, zu begreifen; aber dank Schmids behutsamem Herantasten und Heranführen erfährt der Betrachter vieles über die Offenheit, zu der man fähig und bereit sein muß, um sich der Schönheit - und Vergänglichkeit - einer fremden Welt nicht zu verweigern. "Es gibt so viele seltsame Dinge", sinniert Bando einmal, in die aufgehende Sonne blickend, "aber es ist schön."
Kommentar verfassen

Kommentieren