© Kinderfilm/Joseph Wolfsberg ("Die Blindgänger")

#ichsehewas - All inclusive

Das Dossier „#ichsehewas – Inklusion im Kinder- und Jugendfilm“ rückt Filme ins Zentrum, in denen Menschen mit Behinderung nicht mehr als Spielball für dramaturgische Zwecke missbraucht werden

Veröffentlicht am
13. März 2024
Diskussion

Von der ersten „Heidi“-Verfilmung (1937) bis zur Mini-Serie „1 Meter 20“ (2021) war es ein langer, steiniger Weg, auf dem die Darstellung von Menschen mit Behinderungen im Kinder- und Jugendfilm viele Hürden überwinden musste. Während Klara im Rollstuhl vor allem auf ihre Behinderung reduziert blieb und Mitleid eine dominante Rolle spielte, geht es heute eher um Empathie und die Grenzen im Alltag. Dennoch ist es bis zu einer echten Inklusion noch weit.


Wahrgenommen werden. Teilhaben. Gesehen und gehört werden. Wenn im Moment gerade viel über Diversität gesprochen wird, dann ist die Sichtbarkeit ein wichtiger Aspekt davon. Das Dossier „#ich sehe was – Inklusion im Kinder- und Jugendfilm“ unternimmt eine Bestandsaufnahme: Welche Rollen spielen Menschen mit Behinderungen in Kinder- und Jugendfilmen heute? Wie hat sich die Darstellung von behinderten Menschen im Laufe der Zeit verändert? Mit welcher Haltung erzählen die Filme und welche Themenschwerpunkte setzen sie?


      Aus der Reihe #ichsehewas


Im historischen Rückblick, beispielsweise auf die „Heidi“-Verfilmungen, kann man gut erkennen, wie sehr sich die Darstellung von Menschen mit Behinderungen im Kinder- und Jugendfilm gewandelt hat. Denn die zwölfjährige Klara, die den ganzen Tag im Rollstuhl sitzt und „von einem Zimmer ins andere gestoßen“ wird, wie es in Johanna Spyris Buch „Heidis Lehr- und Wanderjahre“ aus dem Jahr 1880 lapidar heißt, dient als Figur vor allem dazu, ihre Freundin Heidi als gutherzig und vorurteilsfrei zu charakterisieren. Klara hingegen bleibt weitgehend auf ihre Behinderung reduziert und ein Objekt des Mitleids, auch wenn der Geißen-Peter in einem Anfall von Eifersucht den Rollstuhl in die Tiefe stößt und Klara dann erste eigene Schritte gelingen.

Ganz so einseitig werden Menschen mit Behinderung heute im Kinder- und Jugendfilm nicht mehr gezeichnet, wie Kirsten Taylor in einem Streifzug durch aktuelle Filme herausarbeitet. „Die Schwerpunkte haben sich verändert, lautet ihr Fazit, da es inzwischen eher um Empathie gehe und darum, behinderte Menschen als Mitglieder einer diversen Gesellschaft sichtbar zu machen, die in ihrem Alltag immer wieder an Grenzen und Barrieren stoßen. Die Analyse von Filmen wie „Zoé & Sturm“ (2022) von Christian Duguay, der „Vorstadtkrokodile“-Verfilmungen von Wolfgang Becker (1978) und Christian Ditter (2008) oder auch „Das Pferd auf dem Balkon“ (2012) von Hüseyin Tabak verdeutlicht, dass gegenwärtig nicht mehr die Behinderung der Protagonist:innen im Vordergrund steht, sondern ihre persönliche Entwicklung sowie ihre alterstypischen Wünsche und Bedürfnisse. So erzählt „Die Blindgänger“ (2004) von Bernd Sahling eindringlich von den Verliebtheitsgefühlen und dem Willen zur Selbstbehauptung seiner beiden sehbehinderten Protagonistinnen Marie und Inga. Und „Coda“ (2021) von Sian Heder dreht die Perspektive dahinhingehend, dass die Protagonistin Rudy die Einzige in ihrer Familie ist, die hören kann, während ihre Eltern und ihr Bruder gehörlos sind.

Normal: die gehörlose Familie von Ryan (Sundance)
Die familiäre Normalität: die gehörlosen Anbehörigen von Ruby (© Sundance)

Eine der größten Leistungen dieser Filme besteht darin, neue Sichtweisen zu ermöglichen – nicht nur thematisch, sondern auch ästhetisch. Vor allem Filme für Kinder erzählen dabei oft von einer Annäherung oder sogar Überwindung von Vorurteilen und vermitteln Werte wie Toleranz, Offenheit und Respekt anderen Menschen gegenüber.


Aus der Sicht von Autisten

Von einem echten Perspektivwechsel erzählen dabei Filme, die sich auf die Wahrnehmung autistischer Menschen einlassen. Stefan Stiletto schaut sich in dem Aufsatz „Einladung zum Perspektivwechsel“ anhand des Dokumentarfilms „Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann“ und des Spielfilms „Ben X“ einmal genauer an, wie Filmschaffende die Gestaltungsmöglichkeiten des Kinos nutzen, um die Sinneswahrnehmung autistischer Jugendlicher zu spiegeln. „Have a nice trip through our world“, lockt der autistische Naoki Higashida in seinem Buch „The Reason I Jump“, in dem er über sich und seine Weltsicht schreibt. 

In dem darauf beruhenden Film „Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann“ dient dies als Ausgangspunkt, um die Innenperspektive von fünf autistischen Jugendlichen ins Zentrum zu rücken, deren Wahrnehmungen um unzählig viele Details, nicht um das große Ganze, kreisen. Ein klirrendes Windspiel, ein flirrender Ventilator, Licht und Schatten im steten Wechsel unterstreichen die Empfindungen der Protagonisten. Dennoch verfolgt der Film nicht das Ziel, das Publikum zu überfordern, sondern versteht sich als Einladung in „our world“.

Die Versuche des Kinos, die Wahrnehmung autistischer Menschen zu imitieren, sind dabei allerdings nur eine – bisweilen auch verspielte – Inszenierung, keine exakte Spiegelung eines authentischen Innenlebens. Doch im besten Fall gelingt eine positive Irritation, die unsere bekannte Welt größer und vielschichtiger scheinen lässt.


Der einarmige Massimo

Einen erfrischenden Blick auf Inklusion vor und hinter den Kulissen von Theater- und Filmproduktionen wirft in „Glanz der Vielfalt“ ein Gespräch mit Marion Roemer, der Vorsitzenden von „Glanzstoff – Akademie für inklusive Künste e.V.“, das Marguerite Seidel geführt hat. Der von Roemer gegründete Verein bringt am Schauspiel Wuppertal Menschen mit und ohne Behinderungen auf und hinter der Bühne zusammen. Eine Initiative mit großem Potenzial, wie erste Casting-Agenturen zeigen, die sich auf Darstellende mit Behinderungen spezialisiert haben.

Das Dossier beschließt eine Liste sehenswerter Kinder- und Jugendfilme mit Menschen mit und ohne Behinderungen. Darunter auch „Luca“, in dem Stefan Stiletto einen magischen Moment entdeckt hat, der in einer kurzen Szene ganz beiläufig Vorurteile vor Augen führt und damit zum Nachdenken anregt.

Youtube-Still aus "Luca" (Disney)
Youtube-Still aus "Luca" (© Disney)



Alle Beiträge aus „Inklusion im Kinder- und Jugendfilm“



Sehenswerte Filme mit inklusiver Perspektive


Die Blindgänger

Deutschland 2003 | Regie: Bernd Sahling. 88 Min. FSK: ab 0; f



Ein 13-jähriges Mädchen und seine Freundin leben in einem Internat für Blinde. Beide lieben die Musik. Ihre Versuche, in einer Band von "Guckis" mitzuwirken, scheitern. Die Mädchen lassen sich jedoch nicht entmutigen, sondern treten zusammen mit einem jungen Russlanddeutschen auf, um für diesen das Geld für die Heimreise nach Kasachstan zu verdienen. Herausragender Film über die Welt sehbehinderter Teenager, der nicht in Mitleid schwelgt, sondern eine frische, mit selbstironischem Humor erzählte Geschichte zweier Teenager bietet, die mit Leidenschaft und Mut ihren eigenen Weg gehen. - Sehenswert ab 10.

Filmkritik | Aktuell zu sehen | DVD/BD



Coda

USA 2021 | Regie: Sian Heder. Länge: 111 Min. FSK: ab 12

Eine 17-Jährige wächst als einziges hörendes Mitglied einer gehörlosen Familie in einer Hafenstadt in Massachusetts auf; für die Verständigung der Familie mit der Außenwelt ist sie unentbehrlich. Diese Konstellation gerät jedoch ins Wanken, als sie ihre Leidenschaft fürs Singen entdeckt und ermuntert wird, in Boston auf ein Musik-College zu gehen. Das Remake des französischen Films „Verstehen Sie die Béliers?“ verbindet klassische Coming-of-Age-Elemente mit dem klanglich und musikalisch eindrucksvoll umgesetzten Porträt einer Eltern-Kind-Beziehung am Schnittpunkt zwischen den Welten der Gehörlosen und der Hörenden. Überzeugend ist der emotionale Film auch dank eines Ensembles mit mehreren gehörlosen Darstellern. - Ab 12.

Filmkritik | Aktuell zu sehen


Verstehen Sie die Béliers

Frankreich 2014 | Regie: Éric Lartigau. Länge: 106 Min. FSK: ab 0; f

Die pflichtbewusste jugendliche Tochter von Bauern aus der französischen Provinz muss viele Vermittleraufgaben übernehmen, weil ihre Eltern und ihr Bruder gehörlos sind. Als ihre außergewöhnliche Gesangsstimme entdeckt wird und ihr ein Musikstudium in Paris winkt, gerät sie in einen Gewissenskonflikt. Eine gefühlsbetonte Komödie, die weniger durch inhaltliche Originalität als durch ihre warmherzig gezeichneten Figuren für sich einnimmt. Dabei überdecken die versierten Darsteller, vor allem aber die fulminante Hauptdarstellerin kleinere Handlungsschwächen und einige weniger gelungene Einfälle. - Ab 12.

Filmkritik | Aktuell zu sehen | DVD/BD



Josie, der Tiger & die Fische

Japan 2020 | Regie: Kôtarô Tamura. Länge: 98 Min. FSK: ab 12; f

Ein Meeresbiologie-Student bewahrt eines Tages eine junge Frau im Rollstuhl vor einem Unfall und wird von deren übervorsichtiger Großmutter als Aufpasser engagiert. Das führt zunächst zu vielen Reibungen, da sich die Frau gegen die Überwachung wehrt, doch als der junge Mann beginnt, ihr entgegen seinen Anweisungen die Welt außerhalb ihres Hauses zu zeigen, erwärmen sie sich füreinander. Ein mit zärtlichem Blick und warmen Farben umgesetzter Anime, der in heftigen Gefühlswelten schwelgt und einen Hang zum Melodram zeigt, durch seine sensibel entworfenen Figuren aber für sich einnimmt. - Ab 14.

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Zugvögel

Frankreich/Belgien 2015 | Regie: Olivier Ringer. Länge: 80 Min. FSK: ab 6

Durch einen Zufall prägt sich ein Entenküken nach dem Schlüpfen auf ein kleines Mädchen, das wegen einer Muskelerkrankung im Rollstuhl sitzt. Als die Eltern das Tier auf eine Geflügelfarm abschieben wollen, bricht die menschliche Entenmutter mit ihrer besten Freundin auf, um dem Küken ein würdiges Zuhause in einem Vogelparadies zu verschaffen. Eindrücklicher, emotional überschwänglicher Kinder-Abenteuerfilm, der vom Erwachsenwerden und der Relativität des Begriffs „Behinderung“ erzählt. Auf ergreifende Weise wirbt er dafür, Kindern mehr Verantwortungsbewusstsein zuzugestehen. - Sehenswert ab 8.

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Auf Augenhöhe

Deutschland 2016 | Regie: Evi Goldbrunner. Länge: 99 Min. FSK: ab 6; f

Ein selbstbewusster zehnjähriger Waisenjunge stößt zufällig auf seinen ihm unbekannten Vater, muss aber enttäuscht erkennen, dass dieser kleinwüchsig und sogar noch etwas kleiner als er selbst ist. Die Annäherung der beiden ist schmerzhaft und kompliziert, erweist sich aber als erkenntnisreich und gewinnbringend, weil Freundschaft und Respekt ein tragfähiges Fundament bilden. Vitaler Jugendfilm mit einem nuanciert aufspielenden jungen Hauptdarsteller, der die Entbehrungen und Enttäuschungen, vor allem auch die Hoffnungen und Sehnsüchte glaubwürdig vermittelt. Insgesamt lebt er von seiner impulsiven Direktheit, mit der er sein alles andere als leichtes Thema mal dramatisch, mal komisch angeht. - Sehenswert ab 10.

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Das Pferd auf dem Balkon

Österreich | Regie: Hüseyin Tabak. Länge: 93 Min. FSK: ab 0; f

Ein zehnjähriger Junge in Wien, der am Asperger-Syndrom leidet, entdeckt auf dem Balkon eines Nachbarn, einem jungen, hochverschuldeten Mathematiker, ein Rennpferd, mit dem er sich anfreundet. Von da an lernt er, wie man das Leben konkreter anpackt, muss zuvor aber manche Hürde überwinden und sogar gegen zwei Gauner antreten. Eine unterhaltsame Entwicklungsgeschichte mit märchenhaften Elementen, Spannung, Tempo und Witz. Je länger der Kinderfilm mit Genremustern spielt und sich die überraschenden Wendungen zu überschlagen beginnen, desto mehr verschwindet der sympathische Junge aber hinter seinen Versuchen, das „wahre Leben“ zu bewältigen. Darunter leidet die Sorgfalt der Charakterisierung, zumal sich der Film nicht genügend Zeit nimmt, die Veränderungen des gehandikapten Jungen stimmiger auszumalen. - Ab 8.

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Ben X

Belgien/Niederlande 2007 | Regie: Nic Balthazar. Länge: 94 Min. FSK: ab 12; f

Ein 17-jähriger Jugendlicher mit autistischen Störungen versucht, seinem Alltag durch Fluchten in eine Cyber-Kampfwelt zu entkommen, und bietet seinen realen Peinigern mit Hilfe einer virtuellen Freundin und dem Vater, der sich spät auf seine Pflichten besinnt, Paroli. Verfilmung eines belgischen Erfolgsromans und Bühnenstücks, die durch die Verknüpfung von Realszenen und Online-Elementen überzeugend Atmosphäre schafft. Zugleich macht er Betroffenen Mut, ihre jeweilige soziale Situation nicht mit Fatalismus hinzunehmen, sondern durch selbstbewusstes Handeln zu überwinden. - Sehenswert ab 14.

Filmkritik



Warum ich Euch nicht in die Augen schauen kann

USA/Großbritannien 2020 | Regie: Jerry Rothwell. Länge: 82 Min. FSK: ab 6; f

Angestoßen von einem Buch des Japaners Naoki Higashida, der als 13-Jähriger beschrieb, wie er als Autist die Welt wahrnimmt, unternimmt ein Film eine Reise in die Welt von Autisten. Higashidas Aufzeichnungen werden mit Alltagserfahrungen von fünf jungen Autisten und deren Angehörigen verbunden, wobei die detailbezogene und zerstückelte Wahrnehmungsweise der Protagonisten in kurzen Einschüben auf der Bild- und Ton-Ebene nachempfunden wird. Der Film baut Brücken in eine schwer zugängliche Welt und lädt als sinnliches Erlebnis dazu ein, über die eigene Wahrnehmung der Welt nachzudenken. - Sehenswert ab 12.

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Mein Bruder, der Superheld

Italien/Spanien 2009 | Regie: Stefano Ciprani. Länge: 94 Min. FSK: ab 12; f

Ein Junge glaubt erst, dass es sich beim Down-Syndrom seines kleinen Bruders um eine Superkraft handelt und ist nach der Entdeckung der Wahrheit bitter enttäuscht. Zwar hängt er bald wieder an seinem Bruder, doch als er sich als Jugendlicher auf einer neuen Schule erstmals verliebt, will er dessen Existenz unbedingt geheim halten. Humorvoller Familienfilm, der einfühlsam von einer liebevollen Geschwisterbeziehung und der Furcht vor Ausgrenzung erzählt. Ohne Illusionen über die Herausforderungen des innerfamiliären Zusammenlebens zu verbreiten, wirbt der Film mit viel Herzlichkeit für die Überwindung von Vorurteilen und Ängsten. - Ab 12.

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Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war

Deutschland 2022 | Regie: Sonja Heiss. Länge: 116 Min. FSK: ab 12; f

Verfilmung des gleichnamigen Buches aus dem fünfteiligen Romanzyklus „Alle Toten fliegen hoch“ von Joachim Meyerhoff. Der kleine Joachim wächst auf dem Gelände der Kinder- und Jugendpsychiatrie Hesterberg in Schleswig auf. Während seine Mutter von Italien träumt, geht der Vater seine eigenen Wege. Ebenso anrührende wie witzige, in den Hauptrollen herausragend gespielte Tragikomödie, die in subjektiven Anekdoten von einer Kindheit und Jugend an einem ungewöhnlichen Ort erzählt. Darüber hinaus geht es glaubwürdig und anspruchsvoll um Geschwisterkonflikte und den Tod, unvollkommene Väter und die Loslösung vom Elternhaus, um Freude und Trauer. - Sehenswert ab 14.

Filmkritik | Aktuell zu sehen | DVD/BD

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