© Port au Prince/Senator Film/Schwarzweiss Film/Wild Bunch/Peter Hartwig

Wo die Musik sich auflöst

Ein Interview mit (Film-)Komponist Lorenz Dangel über seine Musik zu Matthias Glasners Drama "Sterben"

Veröffentlicht am
24. April 2024
Diskussion

Lorenz Dangel ist ein Komponist mit vielen Facetten: Neben der Filmmusik arbeitet er intensiv in den Bereichen Konzert- und Bühnenmusik. Zu zahlreichen Autorenfilmen, für die er den Soundtrack schrieb, zählen „Schläfer“ (2005), „Die Lebenden“ (2012) und „Licht“ (2017). Dangel wurde für seine Kompositionen mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem „Deutschen Filmpreis“ für seine Musik zum Endzeit-Thriller „Tides“ (2021). Zuletzt hat er 2024 die Musik zu Matthias Glasners Film „Sterben“ beigesteuert. Ein Gespräch über die Herausforderungen einer zeitgenössischen Konzertmusik für einen Film, stilistische Gratwanderungen, unterschiedliche Fassungen, die Arbeit mit Schauspielern und eine authentische Einstudierung am Set.


Von welchem Moment an waren Sie als Komponist in den Film involviert?

Dangel: Matthias Glasner kam vor etwa drei Jahren mit einer seiner ersten Drehbuchfassungen auf mich zu. Es war ihm bewusst, dass er sich sehr früh um das titelgebende Musikstück kümmern muss. Dieses Stück nimmt eine zentrale Funktion im Film ein, es ist ein Auftragswerk, das die fiktive Figur des Komponisten Bernard Drinda zu schreiben versucht. Da dessen Werk mit seinem Scheitern in der Arbeit und im Leben sehr stark verbunden ist, haben wir viel darüber gesprochen, was für ein Mensch er ist, was ihn künstlerisch umtreibt. Durchaus heiße Diskussionen hatten wir hinsichtlich der Musikästhetik. Es ging um die Frage, wie modern das Stück sein sollte: Atonal und kompliziert oder stilistisch zugänglicher? Unsere Auseinandersetzung darüber erwies sich als sehr fruchtbar, und so, wie ich die Musik letztlich geschrieben habe, korrespondiert ihre Ästhetik mit den entsprechenden Szenen in der Handlung. Da spielen filmmusikalische Aspekte hinein – meine Komposition unterstützt in diesen Momenten auch die Dramaturgie der Handlung.


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… und doch unterscheidet sich dieses Stück grundlegend von gewöhnlicher Filmmusik!

Dangel: Allerdings! Landläufig entsteht Filmmusik nach dem Dreh in der Phase des Schnitts. „Sterben“ ist dagegen ein eigenständiges Stück, das wir bereits beim Drehen brauchten, weil wir es live vor laufender Kamera aufgenommen haben und demzufolge im Vorfeld des Drehs erarbeiten mussten. Insofern ist es ein Kompositionsauftrag für eine Musik, die mehrere Fassungen hat, die aber alle aufeinander aufbauen. Die Entwicklung der Endfassung lässt sich musiktheoretisch nachvollziehen.

Als Filmkompinist für "Tides" mit dem Deutschen Filmpreis geehrt: Lorenz Dangel (© IMAGO / Eventpress)
Als Filmkomponist für "Tides" mit dem Deutschen Filmpreis geehrt: Lorenz Dangel (© IMAGO / Eventpress)

Der Orchester-Cast aus Profimusikern und Studierenden der zwei Berliner Musikhochschulen, die am Filmset die Probenszenen und das finale Konzert spielen, macht das Drama sehr authentisch. Das stellte bestimmt das gesamte Team vor große Herausforderungen?

Dangel: Ich muss Matthias Glasner wirklich ein großes Lob dafür aussprechen, dass wir das Orchester mit echten Musikern vor der Kamera während des Drehs aufnehmen konnten. Um so etwas zu riskieren, bedarf es eines unglaublichen Willens seitens des Regisseurs, das erfordert nicht nur sehr viel mehr Geld, weil die Dreharbeiten ungleich komplizierter werden, sondern auch Zeit am Set! Normalerweise würde man die Musik vorher im Studio aufnehmen und am Set abspielen, und die Musiker würden sich dazu bewegen.

Der einzige Schauspieler in diesen Szenen ist Lars Eidinger. Wie kam er mit seiner Dirigentenrolle zurecht?

Dangel: Ein guter Freund von mir, erster Kapellmeister am Staatstheater Cottbus, und ich, der ich auch selbst dirigiere, haben das Dirigier-Coaching für Lars Eidinger übernommen. Wir haben uns dazu in meinem Studio in Berlin zu dritt diverse Male getroffen, auch Videos als Material zum Üben aufgenommen, weil Lars Eidinger viel unterwegs war und nur begrenzte Zeit mitbrachte, sich damit zu befassen. Es war aber klar, dass seine Rolle einer guten Vorbereitung bedarf. Darauf habe ich gegenüber Matthias Glasner auch insistiert, der anfänglich der Meinung war, ein Schauspieler könne innerhalb kürzester Zeit das Dirigieren lernen. Karate lernt man sicherlich schneller (lacht). Aber wenn da 50, 60 Leute unter seiner Leitung spielen sollen, muss das intensiv trainiert werden. Zum Glück hat Matthias das eingesehen und meine Vorschläge angenommen. Es gibt Szenen, die Lars Eidinger am Ende alleine dirigiert hat – vor allem, worauf ich sehr stolz bin, diese Probenszene, die leider nicht komplett im Film drin ist, in der er abbricht und dem Orchester Instruktionen gibt. Das Konzert am Schluss hat er auch selbst dirigiert. Als Konzertmeister hatten wir allerdings mit Sebastian Kasper, Mitglied des Stegreiforchesters, ganz bewusst einen Geiger ausgesucht, der erfahren darin ist, ohne Dirigenten zu spielen. Der hatte große Erfahrungen im Führen von dieser Position aus. Das war sicherlich auch hilfreich.

Der Komponist Bernard Drinda ist eine fragile Person. Mehrfach will er Suizid begehen und am Ende tut er das auch. Wie vertraut sind Ihnen solche Gedanken?

Dangel: Ich glaube, dass solche Gedanken vielen kreativen Menschen vertraut sind. Matthias Glasner hat einmal zu mir gesagt, ich sei für ihn ein Vorbild für diese Figur gewesen. Das hat mich schon ein bisschen verstört, schließlich leide ich zum Glück nicht an Depressionen, Selbstmord steht mir fern. Aber der künstlerische Arbeitsprozess kann natürlich sehr anstrengend sein. Auch in diesem Fall verhielt es sich mit meiner Arbeit an der Musik so, dass ich mehrere Entwürfe verworfen habe. Ich war also weit entfernt davon, das Stück einfach mal so herunterzuschreiben.

In "Sterben" spielt Robert Gwisdek den Komponisten Bernd Drinda (© Port au Prince/Senator Film/Schwarzweiss Film/Wild Bunch/Peter Hartwig)
In "Sterben" spielt Robert Gwisdek den Komponisten Bernard Drinda (© Port au Prince/Senator Film/Schwarzweiss Film/Wild Bunch/Peter Hartwig)

Wie drückt man den Prozess des Sterbens in Musik aus?

Dangel: Die erste Musik, die ich geschrieben habe, die vom Altersheim übergeht in die Szene, in der wir zum ersten Mal Lars Eidinger als Dirigenten sehen, ist getragen von einer gewissen Leichtigkeit, aber auch von einer gütigen Haltung, die der Komponist im Film im sonstigen Handeln und Auftreten weder sich selbst noch anderen gegenüber zulassen kann. Von diesem Stück bin ich ausgegangen und habe daraus die anderen Fassungen entwickelt. Für die Szene mit Chor und Cellosolo hatten wir uns eine sehr berührende Musik vorgestellt. Bei uns am Set hieß diese Szene intern „die gelungene Probe“, weil es vorher eine misslungene Probe gab, hier sollten alle Beteiligten zum ersten Mal ergriffen sein. Dazu eignete sich der Chor sehr gut, etwas entstehen zu lassen in diesem Moment. Wie ich dann welche Noten geschrieben habe, kann ich nicht erklären, es geht eher darum, einen bestimmten Ausdruck zu erreichen oder eine bestimmte Stimmung zu kreieren.

Haben Sie alle Fassungen mit und ohne Chor, aus denen wir im Film teils nur Ausschnitte erleben, als eigenständige, abgeschlossene Werke angelegt?

Dangel: Es wäre sicherlich noch authentischer gewesen, wenn ich jede der insgesamt fünf Fassungen vollendet hätte. Das war aber aus Zeitgründen nicht machbar, weshalb ich überwiegend nur die Ausschnitte geschrieben habe, die im Film zu hören sind, und mich dabei stets gefragt habe, welchen Einblick in diese Fassung es für die entsprechende Szene bedarf. Die Chorszene zum Beispiel sollte ganz bewusst weder einen Beginn noch einen Schluss beinhalten. Es sollte sich vielmehr vermitteln, dass es sich um einen Ausschnitt aus der Mitte des Werks handelt und nicht um ein für sich komplett abgeschlossenes Stück. Das passiert ja dann in der letzten Fassung von „Sterben“.

Wie finden Sie das Stück besser: mit Chor oder ohne?

Dangel: Ich mag die allererste Fassung ohne Chor am liebsten, die mit Holzbläserfiguren beginnt, zu der habe ich den größten Bezug. Ich weiß, dass die Chorfassung von vielen Zuschauern sehr gemocht wird, weil sie sehr emotional wirkt. Das finale Konzert soll eine große Geste machen, dieses Einmal-komplett-Aufstehen und wieder Zurückgehen und Verenden, das ist rein kompositorisch nicht besonders anspruchsvoll, und eigentlich die filmmusikalischste unter den Fassungen.

In einer Szene diskutieren Dirigent und Komponist über das schwierige Balancieren auf dem „schmalen Grat“, ein Stück zu schreiben, das berührt, ohne ins Sentimentale oder Kitschige abzugleiten. Wie balancieren Sie auf diesem schmalen Grat?

Dangel: Das ist bei mir auch ein absolut präsentes Thema. Das künstlerische Schaffen hat meistens viel mit der eigenen Person zu tun. Je älter ich werde, desto mehr realisiere ich, wie stark man eigentlich die Person im Werk spürt. Ich würde mich als einen empathischen Menschen bezeichnen, dem es nicht egal ist, ob die Leute mit seiner Musik etwas anfangen können. Natürlich möchte ich sie erreichen, und da kann man lange Diskussionen führen über Stilistik und Kitsch, und über guten und schlechten Kitsch, insofern ist das ein Thema, das mich total beschäftigt, weil ich mich immer wieder frage, ob das, was ich schreibe, das Publikum anspricht. Wenn man sich mit seiner Kunst ausgiebig beschäftigt, wachsen die Ansprüche, trotzdem versuche ich, eine zugängliche Musik zu schreiben, sodass die Zuhörer die Chance haben, sich darauf einlassen zu können.

Lars Eidinger in "Sterben" (© Jakub Bejnarowicz/Port au Prince, Schwarzweiss, Senator)
Lars Eidinger in "Sterben" (© Jakub Bejnarowicz/Port au Prince, Schwarzweiss, Senator)

Was verstehen Sie unter gutem und schlechtem Kitsch?

Dangel: Rachmaninow ist für mich guter Kitsch. Die Sinfonischen Tänze zum Beispiel. Da gibt es dieses wunderschöne Saxophon-Solo, das einen an der Hand nimmt auf diese Reise dieser sich immer weiterspinnenden Melodie, getragen von Wellen der Streicher. Das ist direkt-emotional – und einfach berührend. Interessant ist, dass die Harmonik und auch Rhythmik bei Rachmaninow gar nicht so simpel sind, wie es auf den ersten Blick scheint. Und noch etwas finde ich spannend: Es gibt Aufnahmen mit Rachmaninow selbst, der fast alle seine Tempi schneller nimmt, als wir es durch die vielen Interpretationen gewohnt sind. Kitsch entsteht nämlich auch manchmal durch die Interpretation und nicht nur durch das Werk selbst.

Schlechter Kitsch, um das noch zu vervollständigen, ist für mich zum Beispiel fast alles, was unter diesen schlimmen Begriff der „New Classics“ fällt. Ich möchte da jetzt keine Namen nennen, aber in den letzten 20 Jahren ist ein Stil entstanden, den viele Menschen der Klassik zuordnen, nur weil klassische Instrumente verwendet werden, und der einfach nur aus Redundanz besteht. Das ist fast schon wieder faszinierend. Jede Form der Überraschung wird im Prinzip ausgeschlossen, man weiß immer, wie der nächste Takt geht. Also harmonisch ein bisschen wie in der Popmusik, nur fehlt der Rest, das Innovative, das im Pop durch Texte, Klang, Interpretation dazukommt.

Bevorzugen Sie für Ihre eigene künstlerische Handschrift eine bestimmte Tonsprache?

Dangel: Ich habe als Komponist verschiedene Facetten. Die Filmmusik müsste man bei so einer Betrachtung ohnehin schon einmal weglassen, weil sie immer eine kreative Dienstleistung ist, bei der ich mich auf ästhetische Diskussionen, Wünsche und Vorstellungen von anderen Leuten einlassen muss, die darüber entscheiden, ob sie meine Arbeit gut finden. Das ist bei einem klassischen Kompositionsauftrag anders. Insofern ist die Filmmusik sowieso schon etwas multistilistischer. In meinen konzertanten Werken gibt es eine persönliche Tonsprache, aber auch dort changiere ich gerne zwischen unterschiedlichen Stilen, um Kontraste auszureizen. Ich finde es wahnsinnig spannend, sich aus einer tonalen Musik in eine atonale zu bewegen und wieder zurück.

In einer grotesken Szene in „Sterben“ in der Berliner Philharmonie erleidet die Schwester des Dirigenten einen eklatanten Hustenanfall, der dazu führt, dass die geplante Uraufführung platzt. Wie hätten Sie sich als Komponist in einer solchen Situation verhalten?

Dangel: Im Gegensatz zu Bernard Drinda hätte ich die Schwester des Dirigenten sicherlich nicht angegriffen (lacht). Natürlich ist das eine überspitzte Szene, wobei das stark mit dieser Figur, der Schwester des Dirigenten, zu tun hat. Ich würde vermutlich abwarten, bis sich alles wieder beruhigt hat und davon ausgehen, dass das Stück danach von vorne beginnen kann.

Die gute musikalische Beratung an diesem Film drückt sich bis hin zu einer kleineren Rolle wie der Cellistin aus, die eine sehr bewegende solistische Elegie zu spielen hat, aber auch in Dialogszenen hervortritt …

Dangel: Saerom Park ist Solocellistin beim Ensemble Resonanz in Hamburg, alle übrigen mitwirkenden Musiker Absolventen der zwei Berliner Musikhochschulen. Ich kannte sie vorher schon, und wir haben uns im Vorfeld verständigt, wie wir uns das vorstellen. In einer Szene, in der Bernard Drinda sie körperlich angreift, geht es um den Unterschied zwischen Leiser-Werden und Sich-Auflösen. Darüber haben wir diskutiert, das merkt man im allerletzten Stück: Das baut sich riesig als großes Tutti auf, dann wird es wieder leiser, das Orchester hört irgendwann auf und das Cello bleibt alleine übrig. Was sie dann spielt, diese letzten Takte, das ist sozusagen das, wovon Drinda immer gesprochen hat: Der Ton verliert an Substanz, an Körper, und eigentlich geht die Musik in ein leichtes Rauschen, in ein Kratzen über und löst sich dann auf.

© Port au Prince/Senator Film/Schwarzweiss Film/Wild Bunch/Peter Hartwig)
Das Cello spielt "Sterben" © Port au Prince/Senator Film/Schwarzweiss Film/Wild Bunch/Peter Hartwig)

Das knapp 7-minütige Stück, mit dem der Film endet, erscheint mir absolut konzertsaaltauglich. Gibt es Bestrebungen, das Stück „Sterben“ in einem echten Konzert aufzuführen?

Dangel: Grundsätzlich ja, ich würde aber doch immer den Bezug zum Film herstellen wollen. Letztlich habe ich versucht, das Stück so zu schreiben, wie der Komponist Bernard Drinda es im Film aus seiner kompositorischen Haltung und Situation heraus geschrieben hätte. Insofern ist es im Prinzip das Stück eines fiktiven Komponisten.

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