Jagd auf Schmetterlinge

Komödie | Frankreich 1992 | 118 Minuten

Regie: Otar Iosseliani

Zwei alte Damen in einem Schloß in der französischen Provinz bewahren durch Abwehr von Händlern, Maklern und anderen Profitjägern bis zu ihrem Tode ihren Besitz vor dem vorzeitigen Ausverkauf und halten tapfer ihren eigenwilligen Lebensstil gegen allen angeblichen Fortschritt aufrecht. Eine von poetischem Realismus und melancholischer Ironie und Komik durchzogene Studie über den Abschied von Lebensformen, die durch Veränderung von Zeit und Gesellschaft überholt sind. Zugleich eine kritische Beschreibung der Verluste von überlieferten Werten durch das skrupellose Macht- und Geldstreben, das der Würde des Menschen nur kalte materialistische Auffassungen entgegensetzt und einen gesichtslosen Kollektivismus heraufbeschwört. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LA CHASSE AUX PAPILLONS
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1992
Produktionsfirma
Pierre Grise Prod./Sodaperaga/France 3 Cinéma/Metropolis/Best Int. Films
Regie
Otar Iosseliani
Buch
Otar Iosseliani
Kamera
William Lubtchansky
Musik
Nicolas Zourabichvili
Schnitt
Otar Iosseliani
Darsteller
Narda Blanchet (Solange) · Pierrette Pompon Bailhache (Valérie) · Alexander Tscherkassow (Henri De Lampadère) · Thamar Tarassaschvili (Marie-Agnès) · Alexandra Liebermann (Hélène)
Länge
118 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Komödie | Drama
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Diskussion
Auch dies ist wieder ein Film des Abschieds. Wie zuletzt noch in seinem auf aktuelle Wirklichkeit bezogenen poetischen Märchen "Und es ward Licht" (fd 28 335), beschreibt der Georgier und Dowshenko-Schüler Otar Iosseliani in dieser "Elegie unter Lächeln" erneut mit kritischem Blick auf vermeintliche Fortschritte der Zivilisation ihre kulturell entwurzelnde Kraft und den Abschied von unhaltbar gewordenen Lebensformen. Ein Schloß in einem provinziellen französischen Irgendwo ist der Schauplatz der Handlung. Zwei alte Damen, die an den Rollstuhl gefesselte Schloßbesitzerin Marie-Agnes und ihre Cousine Solange, leben hier inmitten vergammelnder Pracht von der Vergangenheit umklammert mit geschönten Erinnerungen. Die Schrecknisse der Welt von heute dringen nur als kopfschüttelnd vernommene Meldungen der Medien in ihre Abgeschiedenheit. Aber Marie-Agnès und Solange sind dennoch keine blutleeren Panoptikumfiguren einer absterbenden Gesellschaftsschicht. Als höchst individuelle Menschen stehen sie offen dem Alltagsleben der Dorfgemeinde gegenüber, die das Schloß umgibt. Marie-Agnès betreibt Schießsport, Solange bereichert den Mittagstisch mit selbst geangelten Fischen, bläst im Gemeindeorchester die Posaune und dem etwas zu trinkfreudigen Pfarrer auch mal den Marsch; oder flippert im Gasthaus und spielt mit einem in der Nachbarschaft domizilierenden Emir, der ihr schon aus Kindheitstagen als Freund vertraut ist, Schach. Vor allem aber wird das Leben der beiden durch habgierige Antiquitätenhändler, Immobilienmakler und erwerbsfreudige Japaner aktiviert. Man muß dauernd ihre beharrlichen Kaufabsichten abwehren und auch den freundlich in Schloß und Park geduldeten Krishna-Jüngern auf die nicht nur Gebetsmusik trommelnden Finger sehen. Wegen des Achtens auf das begehrte Tafelsilber, die Bilder und kostbaren Möbel aus besseren Zeiten kommen die zwei alten Damen nur hin und wieder dazu, ihre einstigen Lebensformen in Ruhe zu zelebrieren und sich von der hohen Warte ihrer aristokratischen Erziehung über die Geschmacklosigkeit zu ereifern, daß man ihnen ausgerechnet an einem Mittwoch gelbe Blumen schenkt! Hin und wieder fällt auch der Staub von einem Möbel, weil man es nun doch der ermüdend auf einen einschwatzenden Antiquitätenhändlerin überläßt. Aber der richtige Ausverkauf bricht mit geradezu elementarer Gewalt plötzlich los, als Marie-Agnès unerwartet stirbt, ihre erbende Schwester mit Tochter aus Moskau anreist und viele andere erblüsterne Verwandte sich einfinden. Das Schloß wird an die nun endlich triumphierend zum Ziel kommenden Japaner verkauft; die jetzt wohlhabende Schwester aus Moskau kann mit ihrer Tochter von einer systemkonformen tristen Existenz in ein Leben mit westlichem Luxus überwechseln, wie auch im Dorf durch die Initiativen der Wirtschaft schaffenden Japaner sich neue Lebensart anstelle der bescheidenen Lebensfrömmigkeit und Brüderlichkeit von einst unter den Einwohnern ausbreitet. Solange, die nach der notariellen Übergabe des Schlosses an die Japaner den Ort verläßt, hat jedoch keine Zeit sich alles so recht bewußt zu machen. Im wahrsten Sinne des Wortes kommt sie mit einem Knalleffekt aus dem Leben, als der luxuriöse Salonzug, mit dem der Emir sie einem neuen Leben zuführen will, von jungen systemfeindlichen Terroristen mit dicken Sprengstoffpaketen in die Luft gejagt wird. Damit ist die Jagd der von allen Grundwerten unbehelligten Profitjäger und Fortschrittsanbeter auf die voll Grazie gleich Schmetterlingen im "Zeitwind" taumelnden Vertreterinnen altüberbrachter Lebensformen endgültig zu Ende.

Losselianis Film mit seinem poetischen Realismus und der Grundmelodie einer Melancholie, die auch ihre Komik hat, bringt in einem vielverzweigten Geflecht von epischen Szenen eine Gestaltenfülle unter, in der alles Menschliche vertreten ist. Die Logik seiner gedanklichen und psychologischen Zusammenfügungen entspricht genau der Montagelogik der atmosphärischen Bilder. Durchgeistert ist der Film von der Patenschaft Tchechows, Tatis und Giraudoux'. Die melancholische Ironie des Russen und der Franzosen ist da ebenso wie ihre zart klagende Wehmut über den unheilsamen Lauf von Umwälzungen der Zeit mit schmerzlichen menschlichen Verlusten. Vor allem der Geist der "Irren von Chaillot" von Jean Giraudoux ist es, den Iosseliani sich nutzbar macht. Zwar gehen die beiden alten Schloßdamen nicht wie Giraudouxens "Irre" mit vollkommenem unerschütterlichem Mut und mit List, Witz und einiger Bosheit gegen die Gefahr einer mechanisierten Geschäftswelt und der skrupellosen Ausbeutung des Menschen vor. Iosselianis silberhaarige Damen üben sich eher in passivem Widerstand. Aber sie haben ihre Identität, sie sind als Persönlichkeiten Widerstand genug gegen Menschen mit dem einzigen Willen zum Geld - und Machterwerb. Und wie bei Giraudoux triumphiert der Individualismus auch hier in einer bizarren Vertretung über die Exponenten der Macht und des Kollektivismus', die alles, was eigenes Profil hat, hassen. So lange ihnen Zeit zum Da-sein gegeben ist, ist hinter ihrem verschrobenen Wesen das verborgene warme, menschenliebende Herz und ein logisch und klar denkender Verstand Waffe genug in der Abwehr menschenfeindlicher Zeit- und Le-bensveränderer.

Marie-Agnès und Solange haben noch den Respekt vor sich selbst. Das befähigt sie, auch die Würde der anderen zu achten und nach einem Wort von Novalis nächstenliebend zu wissen, daß "in jedem Menschen mir Gott erscheinen kann". Sie erkennen angesichts des auch nach ihnen und der Dorfgemeinde greifenden technisierten Zeitalters die Gefahr eines künftigen Daseins ohne Wärme; und sie registrieren in einer Mischung von hinhaltendem Aufbäumen und stiller Resignation, daß nicht einmal ein revolutionärer Optimismus, keine neuen Ideale und Werte am Zerbröckeln ihrer Welt und Lebensform schuld sind, sondern einfach nur das alle Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität vernichtende Profitstreben einer sittlich richtungslosen neuen Gesellschaftsschicht, die kreatürliche Gesetze kalt lächelnd beiseite schiebt und schon gar nichts von des Menschen "Unverletzlichkeit in Gott" hält. Die in Marie-Agnès und Solange gespiegelte Tragödie des Zivilisationsmenschen entfaltet ihre Wirkung um so stärker, je weniger Iosseliani in der aussichtlosen Verteidigung eines kleinen Reservats menschlicher Freiheit die Geheimnisse des Herzens freilegt. So sehr er alles sinnliche Dasein ins poetische Bild hebt - die untergründige Wirklichkeit aller Personen wird trotz vielfältiger akustischer Ausdrucksformen nur gleich einem "Stummfilm" vermittelt. Da gibt es keine rationalen Belehrungen oder das Ansteuern von Symbolik. lossiliani läßt trotz der präzisen Beobachtung der menschlichen Psyche die "zweite Ebene" des Lebens, das Innerste des Menschen zur "denkenden Vervollständigung" durch den Betrachter nur ahnen.
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