Jeckes - Deutsche Juden in Israel

Dokumentarfilm | Deutschland 1997 | 100 Minuten

Regie: Jens Meurer

Sieben israelische Männer und Frauen, zwischen 1909 und 1928 geboren, geben Auskünfte über ihre Biografien. Sie alle eint ihre Herkunft aus Deutschland und ihre jüdischen Wurzeln. Der Film entdeckt aufregende Lebenswege, fragt nach Erinnerungen an die unvergessene erste Heimat, an die Ankunft in Palästina, nach der Beziehung zur jüdischen Religion und der Politik des Staates Israel in Vergangenheit und Gegenwart. So entsteht ein Kaleidoskop von Reminiszenzen, Meinungen und Träumen, das überreichen Stoff zum Debattieren bietet. Die Interviewpartner sind äußerst lebendige Erzähler, deren mitunter schwarzhumorige Antworten den Film nicht nur zu einem lehrreichen, sondern auch zu einem unterhaltsamen Essay werden lassen. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Egoli Films/BR/arte/Channel Four
Regie
Jens Meurer · Carsten Hueck
Buch
Carsten Hueck · Jens Meurer
Kamera
Bernd Fischer
Schnitt
Gaby Kull-Neujahr
Länge
100 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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IMDb

Diskussion
Jens Meurer und Carsten Hueck haben sieben zwischen 1911 und 1928 geborene Männer und Frauen um Auskünfte über ihr Leben gebeten. Deutsche Juden, die seit langem in Israel wohnen. Dort nennt man sie "Jeckes", was vermutlich mehr ein Schimpf- als ein Kosewort ist. Ein paarmal reflektieren die alten Menschen darüber, worin die Gründe dafür liegen könnten: vielleicht, weil sich die einst aus Deutschland gekommenen Juden, zumindest sehr viele, als etwas Besseres verstanden als diejenigen, die aus Osteuropa, aus einem Schtetl oder einem Ghetto nach Palästina eingewandert waren: "Wir waren pünktlicher, sauber, richteten unsere Häuser schön ein (...) Deshalb hat man uns kritisiert", sagt eine der Befragten, oder: "Sie waren ähnlich dem deutschen Bürgertum: ein bißchen steif, ein bißchen eine Kaste." Oder: "Sie sind hergekommen und dachten sofort, sie müssen Ordnung schaffen..." Viele Mitbewohner seien überzeugt davon gewesen, daß die Jeckes kein Herz, sondern eine Uhr an dessen Stelle hätten. Auf die Frage, wo trotz solcher Meinungen heute in Israel der Einfluß der Jeckes spürbar sei, lautet dann aber die knappe Anwort: "An allem."

Solche Passagen sind die aufregendsten Momente eines insgesamt sehr sehenswerten Films. "Jeckes" läßt sich, ohne dies etwa durch Zwischentitel markiert zu haben, in drei große Kapitel einteilen: Zunächst erkunden Meurer und Hueck die Haltung zur einstigen Heimat, forschen nach Erinnerungen und Wurzeln. Da ist Paul Jacobi, der ehemalige stellvertretende Bürgermeister von Jerusalem, der 1929 nach Palästina gekommen war und inmitten einer Bibliothek von zehntausend deutschsprachigen Bänden lebt. Ein schwarzhumoriger, geistvoller Plauderer, nicht nur vom Äußeren dem Frankfurter Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ähnlich. Seine Bücher, so sagt er, hätten keine zufälligen, sondern "ideologisch geplante" Standorte. An das Regal mit den Bänden über die "wilde" Vergangenheit des Menschengeschlechts etwa stößt die Literatur über Hitler und Goebbels. Anna Maria Jokl, einst Drehbuchautorin der Ufa, dann Psychologin, reflektiert über ihre Vita in diesem zerrissenen Jahrhundert: "In mir sind die ganzen geologischen Schichten der europäischen Geschichte." - Oder Stef Wertheimer, Besitzer eines Hochtechnologie-Parkes in Galiläa, der ein "Museum der deutschen Judenheit" gestiftet hat, in dem unter anderem ein großformatiges Bild über die Beteiligung von jüdisch-deutschen Soldaten am Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 zu sehen ist. Über dem Bild steht der Leitspruch: "Haben wir nicht alle einen Vater? Hat nicht Gott uns alle geschaffen?" Der nachdenkliche Wertheimer holt diese Sätze in die Gegenwart: "Das hat Hitler vergessen. Deshalb müssen wir's hier besser machen."

Eine Sequenz, die zum zweiten Komplex des Films überleitet: der Ankunft in Palästina und den eigenen, vom Alltag im "gelobten Land" geprägten Lernprozessen. Exemplarisch dafür steht unter anderem eine Frau wie Naomi Fränkel, die einzige Majorin der israelischen Armee an der Front des Suez-Krieges, die 1934 als Waise nach Palästina gekommen war. Sie lebt in einer radikalen Siedlergemeinde bei Hebron, wo sie die Filmemacher bei einem Spaziergang begleiten: "Hier ist es vorläufig ruhig. Was in fünf Minuten los ist, weiß ich nicht. Wir sind daran gewöhnt." In solchen Momenten macht der Film einiges von der israelischen Normalität transparent: die fast ständige Unruhe und Anspannung, das Leben im permanenten Ausnahmezustand.

Wie Naomi Fränkel begleiten Meurer und Hueck auch andere Interviewpartner gelegentlich auf Spaziergängen: mit Paul Jacobi gehen sie durch die Altstadt Jerusalems, deren architektonische Vergangenheit er bewahren half. Die Älteste der Befragten, die Kinderärztin Elly Freund, die im Dritten Reich sogar mit Eichmann über die Rettung jüdischer Kinder verhandelt hatte, führt in einen Kibbuz, ihre erste Heimat. Ein Ort, an dem sie sich auch daran erinnert, wie man ihr beibrachte zu schießen. Über die Details solcher Übungen wird vor der Kamera freilich nicht geredet. Gitta Sherover, eine Friedensaktivistin, die Rabin zu ihren Freunden zählte, verschließt sich sofort, als sie von den Regisseuren nach genaueren Umständen befragt wird. Bis heute behält sie die militärischen Geheimnisse, die der Gründung des Staates Israel vorausgingen, tief in ihrem Herzen. Der Film läßt keinen Zweifel über die verschlungenen, tragischen, oft am existentiellen Abgrund balancierenden Biografien der sieben "Jeckes". Aber er verfällt nie in Larmoyanz und Nostalgie. Nur die sparsam eingesetzte Musik, Klezmervariationen alter Schlager ("Bei dir war es immer so schön" und andere), verbreitet einen Hauch Sentimentalität. Die Gesprächspartner strahlen noch in ihrem hohen Alter Energie, Mut und Humor aus. Michael Smuss beispielsweise, ein Maler, der in den KZ Flossenbürg und Maidanek eingekerkert und am Warschauer Ghetto-Aufstand beteiligt war, begrüßt die Filmemacher in seiner winzig kleinen Wohnung mit verschmitztem Lächeln und dem Satz: "Ich bin Deutscher, aber das Verlangen nach Lebensraum werdet ihr bei mir nicht merken." Angesichts seiner Vita eine schier unglaublichen Sentenz. - Anna Maria Jokl wirkt auch als 85jährige noch irgendwie wild und ungebärdig; Gitta Sherover dagegen hat sich ihren aristokratischen Stolz bewahrt - sie ist die einzige, die bei ihren Antworten aus der deutschen oft auch in die englische Sprache wechselt. Berührend die Szene, in der ihr Meurer und Hueck heutige Aufnahmen des Hauses, in dem sie als Kind in Berlin wohnte, in die Hand drücken. Auf die Frage, was ihr durch den Kopf gehe, wenn sie diese Bilder sieht, antwortet sie zwar ohne zu zögern: "Nichts". Doch gleich danach folgt ihre leise Bitte, die Fotos behalten zu dürfen.

Im dritten Komplex reißt der Film dann eine ganze Reihe von Problemen an: die Zugehörigkeit zum Judentum (bis hin zur Antwort: "Ich war immer ein Kosmopolit, und mich geht das nichts an"), die Nähe und Ferne zum heutigen Deutschland, auch solch heikle Dinge wie das spekulative Nachdenken darüber, wie man sich zu Hitler verhalten hätte, wenn er die Juden zu integrieren bereit gewesen wäre. Interessant eine Antwort auf die Frage nach den streng orthodoxen Juden im heutigen Israel: "Sie können nicht gerecht sein", sagt Gitta Sherover, "ich will lieber ein kleines Israel haben, aber ein gutes. I don't need an empire." So vermittelt "Jeckes" überreichen Stoff zum Nachdenken und Debattieren. Daß dennoch Wünsche offen bleiben, liegt angesichts der verzweigten Materie auf der Hand: Mindestens eine Szenenfolge hätte ich mir erhofft, in der nicht nur Jeckes über Jeckes, sondern auch deren Kinder und Enkel über ihre Eltern und Großeltern reden, eventuell sogar mit ihnen über eine nur kurz angeschnittene Grundfrage der Generationen streiten, nämlich weshalb sich viele Juden nur ungenügend gegen ihre faschistischen Henker wehrten. Und daß sich die Regisseure immer mal wieder selbst ins Bild rücken, soll zwar Nähe und Verbundenheit zu den Porträtierten suggerieren, wirkt aber störend und manchmal leider sogar unangenehm aufdringlich.
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