- | Österreich/Deutschland/Schweiz/Frankreich 2001 | 240 Minuten

Regie: Nikolaus Geyrhalter

Eine zwölf Monate umfassende Dokumentation, in der der österreichische Filmemacher Nikolaus Geyrhalter zwölf entlegene Ort der Erde aufsuchte und deren Bewohner über ihr Leben und ihre Arbeit erzählen ließ. Im Lauf des eindringlich fotografierten, ungewohnt ruhigen Films werden bei aller Andersartigkeit der Menschen Verbindungslinien sichtbar, die sowohl Glücks- als auch Lebensvorstellungen betreffen, aber auch die Zerstörung ursprünglicher Daseinsweisen durch die technische Zivilisation verdeutlichen. Am Ende der faszinierenden Reise wird spürbar, dass es "anderswo" eigentlich nicht (mehr) gibt. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
ELSEWHERE
Produktionsland
Österreich/Deutschland/Schweiz/Frankreich
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Austrian Commission for UNESCOBR/Nikolaus Geyrhalter Film/Teleclub/arte
Regie
Nikolaus Geyrhalter
Buch
Silvia Burner · Nikolaus Geyrhalter · Michael Kitzberger · Wolfgang Widerhofer
Kamera
Nikolaus Geyrhalter
Schnitt
Wolfgang Widerhofer
Länge
240 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Externe Links
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Diskussion
Ein Jahr, zwölf Monate, zwölf Stationen – das sind die nüchternen Eckdaten zu Nikolaus Geyrhalters jüngstem Film. Anders als „Pripyat“ (1999) über das Leben in der „verbotenen Stadt“ bei Tschernobyl und „Das Jahr nach Dayton“ (1997) über die Auswirkungen des Krieges in Bosnien zieht es den österreichischen Filmemacher diesmal nicht in ausgewiesene Krisengebiete. Sein Ziel ist vielmehr „Elsewhere“ (anderswo), und anderswo ist in diesem Fall überall: Niger, Finnland, Namibia, Indonesien, Grönland, Australien, Indien, Russland, China, Italien, Kanada, Micronesien – in dieser Reihenfolge. Ein Jahr lang bereisten Geyrhalter und sein Team die Welt, besuchten die entlegensten Orte, an denen das Leben scheinbar noch in Ordnung ist. Sein Film ist zunächst einmal ein gigantisches formales Experiment, das bei aller zeitlichen Länge und all den zurückgelegten Reisewegen zugleich auch ein Selbstversuch in Sachen Begrenzung ist. Für jeden Drehort stand ein Monat zur Verfügung, jede Episode nimmt im Film exakt 20 Minuten ein; getrennt wird durch Schwarzfilm, der auch für die Struktur innerhalb der einzelnen Episoden zuständig ist. Befragt werden Tuaregs ebenso wie sämische Rentierzüchter, indonesische Dschungelbewohner und australische Aborigines; man erfährt einiges über die Familienstrukturen im chinesischen Hinterland, sardische Fischer kommen ebenso zu Wort wie zwei Indianerhäuptlinge aus Britisch-Kolumbien oder eine Lehrerin auf dem malerischen Woleai-Atoll. Was sie erzählen, ist auf den ersten Blick wenig spektakulär. Sie schildern ihren Alltag, zumeist ihre Arbeit, berichten von Problemen in den Familien. Man sieht die Menschen bei der Robbenjagd, beim Schnitzen von Totempfählen oder beim Unterrichten von Schulkindern. Selten fragt Geyrhalter nach, meistens gibt er sich dem Fluss der Erzählungen hin und lenkt den Blick des Zuschauers auf die herkömmlichste Kommunikationssituation der Welt: Man sitzt sich gegenüber und hört sich zu. So funktioniert Geschichtenerzählen, und wenn der Redende dann auch noch am Lagerfeuer oder im Kerzenschein ruht, muss man unwillkürlich an Märchen denken: „Es war einmal.“ Durch den ruhigen Fluss der Bilder und die unaufgeregten Erzählungen wird bei aller räumlichen Entfernung Verbindendes sichtbar: das scheinbar ruhige, geordnete Leben, eine gewisse Zufriedenheit, auch wenn manche Lebensumstände gewöhnungsbedürftig sind; etwa die beiden Frauen aus Namibia, die sich miteinander und ihrem Mann arrangiert haben und gegen eine mögliche dritte Ehefrau verbünden. In diesem und in vielen anderen Momenten wirkt „Elsewhere“ wie ein Gegenentwurf zu Godfrey Reggios „Koyaanisqatsi“ (fd 24 271). Anders als in dessen apokalyptischer Vision scheint das Leben hier noch im Einklang (mit der Natur und den Mitmenschen) – zumindest auf den ersten Blick. Doch auch vor den entlegensten Flecken dieser Welt hat die Globalisierung nicht halt gemacht. Überall hinterlässt die technisierte Zivilisation ihre Spuren: Ölkatastrophen in Sibirien, ein überfischtes Mittelmeer, das die Menschen kaum noch ernährt, Indianerkinder, die ihre Sprache nicht mehr sprechen dürfen, ein amerikanisches Transportflugzeug, das Kleiderpakete im Südpazifik abwirft, internationale Organisationen oder die Tierschützerin Brigitte Bardot, die die Jagd als Lebensgrundlage grönländischer Jäger in Verruf gebracht haben. Während man sich im Pazifik Gedanken über das Abschmelzen der Polkappen macht, wodurch die flachen Atolle unweigerlich untergehen würden, die australischen Ureinwohner in ihren Slums verkommen und immer mehr Tuaregs in die Stadt abwandern, nimmt der Fortschritt unaufhaltsam, wenn auch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten seinen Lauf. Irgendwann muss man sich der Frage stellen: Gibt es dieses „Elsewhere“, dieses „anderswo“ überhaupt noch? Wird die Andersartigkeit bei aller noch vorhandenen Individualität nicht allmählich ganz aufgesogen? Ist die Welt auf dem Weg zum globalen Dorf? Kann diese Entwicklung durch Beharren auf Traditionen und Gleichmut im Zaum gehalten werden? Geyrhalter liefert darauf in seinem wunderschön fotografierten Film, der den Zuschauer zur Ruhe zwingt, keine Antworten; aber er gibt Anstöße, die lange nachwirken. Nicht von ungefähr steht die Lehrerin Lavinia am Ende des Films, die Angst hat, blind zu werden und in einem (Insel-)Paradies zu leben, das sie nicht mehr sehen kann.
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