Das Wunder von Macon

- | Niederlande/Großbritannien/Frankreich/Deutschland 1993 | 119 Minuten

Regie: Peter Greenaway

Ein labyrinthisch verschachteltes Vexierspiel, ausgelöst durch die Theateraufführung eines religiösen Dramas im 17. Jahrhundert, das von der wundersamen Geburt eines makellosen Kindes in einer Zeit der Unfruchtbarkeit und des Zerfalls handelt. Als sich die 18jährige Schwester gewinnsüchtig als seine "jungfräuliche Mutter" ausgibt, setzt sie eine Spirale der Korrumpierbarkeit in Gang, an der sich Kirche und Volk gleichermaßen beteiligen. Virtuos und bildgewaltig werden alle Grenzen zwischen Wirklichkeit und Spiel aufgehoben und jede Art von Abbildung als Vortäuschung und Manipulation interpretiert. Dabei schreckt der üppig ausgestattete Bilderreigen weder vor extremen Schock- noch vor kalkuliert blasphemischen Bildmomenten zurück, um auf ebenso grausige wie nachhaltig wirksame Weise den Verlust von Unschuld auf allen Ebenen des Lebens zu veranschaulichen. (O.m.d.U.)
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Filmdaten

Originaltitel
THE BABY OF MACON
Produktionsland
Niederlande/Großbritannien/Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
1993
Produktionsfirma
Allarts/Cine Electra/Channel 4/UGC/La Sept Cinéma/Filmstiftung NW
Regie
Peter Greenaway
Buch
Peter Greenaway
Kamera
Sacha Vierny
Schnitt
Chris Wyatt
Darsteller
Julia Ormond (Die Tochter) · Ralph Fiennes (Der Sohn des Bischofs) · Philip Stone (Der Bischof) · Jonathan Lacey (Cosimo Medici) · Don Henderson (Der Beichtvater)
Länge
119 Minuten
Kinostart
-
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Diskussion
Ein Gaukler oder Bußprediger, der offenbar auf einer Schaukel sitzt, spricht in bösem Prophetenton von Dürre und liebloser Zeit. denn Frauen und Männer hätten keine Freude mehr aneinander. Nicht nur wir. auch ein anderes Publikum hören ihm zu: kostümierte Menschen. dichtgedrängt, aus der Epoche des Barocks. Mâcon, ein Schauplatz, angesiedelt zwischen Bauern-Breughel und Rembrandt. Auf einer Bühne wird ein Kind geboren, von einer alten Frau, heißt es. Unter vielen Decken kommt ein säuberliches, rundes, ziemlich ausgereiftes Baby zum Vorschein. Also handelt es sich um keine echte Geburt, nur um einen theatralischen Akt, eine Vortäuschung. Doch es gibt Anzeichen dafür, daß das Publikum im Film an eine wirkliche Entbindung glaubt, Irrt es sich? Irren wir uns? Die Maskerade ist inszeniert. das Spiel Erfindung. Doch Greenaway strengt sich an - und mit Erfolg -. den Zuschauer in der Gewißheit zu erschüttern, das da sei nur ein bunter Bilderreigen, die Handlung zurückversetzt in ein vergangenes Jahrhundert, und sie berühre gar nicht eigene Realität. Er verwischt die Grenzen zwischen den Spielräumen und bringt unsere Bezugssysteme in Verwirrung, unsere Abwehrmechanismen. die sonst so eilfertig zuordnen. Man ist in einem Innenraum, wohl in einem Theater, denn da tritt ja auch ein Trupp von Männern auf, die mit langen Stangen in barbarischem Takt auf den Boden klopfen, wie es früher Bühnenbrauch war bei Vorstellungsbeginn. Dann ist man unversehens in einer Kathedrale. Bald scheint man sich unter Zuschauer zu mengen. bald unter Spieler, Umdeutungen. Nichts, worauf Verlaß wäre.

Am Anfang drängen zuviele Menschen ins Bild, Bewegung, Gewimmel (es bleibt so, man gewöhnt sich daran), der Horror vacui führt Regie, die Angst vor der Leere. An wen soll man sich halten, so viele Gesichter. Geschrei, Gestöhn, Durcheinanderreden? Endlich zeigt sich eine Figur, an der das Auge und die Geschichte festhaften: die 18jährige Tochter der gebärenden Frau, die ihren neuen kleinen Bruder zu einem heilsbringenden Wunderkind erklärt. ihre Eltern in den Keller verbannt, in ein Schrankbett einschließt und sich selbst als Jungfraumutter gebärdet nach dem Vorbild Marias - und sie kleidet sich dann auch wie diese auf religiösen Bildern. Sie läßt ihre Jungfräulichkeit öffentlich untersuchen und bestätigen. Sie hofft, mit Hilfe des Kindes reich zu werden. In der Tat scheint das Ende der unfruchtbaren Zeit gekommen. Das Wunder wirkt. Aber der Spielleiter in seinem Kasten, einem Beichtstuhl ähnlich, der seine Stimme immer wieder dem stummen Kind leiht, warnt sie, widerspricht ihr mißgünstig und kündigt Unheil an. Ihre Liebe zum arroganten und wunderskeptischen Sohn des Kirchenfürsten endet in einer Katastrophe. Als sie sich dem jungen Mann hingeben will, wird der auf Geheiß des eifersüchtigen Babys (oder des Spielleiters) von einer Kuh getötet. Dieses Vieh war einst ein friedliches Tier im bethlehemitischen Stall. Alles scheint sich ins Gegenteil zu verkehren, die heilige Geschichte findet nicht noch einmal statt.

Nur von Ferne erinnert das an ein frommes Erbauungsstück. Greenaway entführt in ein Inferno, eine Hölle, eine Domäne des Grauens und bestialischen Irrsinns, des Terrors ohne Gnade und Erbarmen für die Empörer, Abweichler, Hilflosen, die vom Paradies zu träumen wagen. "I984" , zurückprojiziert ins 17. Jahrhundert. Heilige Symbole werden pervertiert, eine von Not und Glücksbegehren getriebene Hochstaplerin posiert als Jungfraumutter. ein Heilsbringerkind entflammt die Wundersucht der am Leben Leidenden, die Jesusknaben-Tradition wird blasphemisch entstellt und die Kirche mit heftigster Satire bedacht, als sei sie nur eine korrupte Herrschaftsform unter anderen. So beutet der Bischof, geschäftstüchtiger als die falsche "Jungfraumutter", angeblich übernatürliche Kräfte des kleinen Kindes aus. Seine Körpersäfte werden den Gläubigen verkauft, in einer zynisch zelebrierten Versteigerung im sakralen Raum. Bis die junge "Tochter", dem Verlies entflohen, verzweifelt über das Scheitern ihrer hochfliegenden Hoffnungen, den eigenen Bruder sanft unter einem Kissen erstickt. Die geistlichen und weltlichen Herren verurteilen sie, unter Berufung auf fürchterliche, aus Rachedurst ersonnene Mär-tyrerfabeln. zu der Strafe, von über 200 Männern vergewaltigt zu werden. Das findet auf einem Hochbett hinter Gardinen statt, die Mörder (Soldaten?) stehen Schlange. Sie überlebt es nicht. Vorher wehrt sie sich noch verzweifelt - denn das sei in ihrer Rolle nicht vorgesehen. Wird sie als Tochter - oder als Spielerin dieser Tochter umgebracht? Weiß das Publikum, ob ihre Schreie echt sind oder nicht? Wissen wir es? Die Eltern begehen anschließend Selbstmord. Das feierlich aufgebahrte tote Kind wird von vielen Händen zerstückelt und zerrissen, da alle etwas von dem wundertätigen Wesen nach Hause bringen wollen. Die drei übrigen Leichen trägt man am Ende herein und stellt sie zu einer grausigen Pietà zusammen: den massakrierten Sohn des Bischofs, das geschlachtete Rind und die erbärmlich zugerichtete junge Frau. Sind sie nun tot im Spiel - oder war es eine mörderische Aufführung, die einige Akteure nicht überlebten? Zutiefst verstört muß der Blick auf ihnen ruhen. Und sie rühren sich nicht mehr.

Die Kamera bewegt sich virtuos im Labyrinth von Sein und Schein und gleitet scheinbar, in auffälligen Parallel- und Rückfahrten, über die unsichtbare Rampe hinweg zwischen Spielern und Publikum im Film. In den letzten Einstellungen weicht das Auge des Betrachters zurück. Die wir für Zuschauer des fürchterlichen Spektakels gehalten haben, entpuppen sich plötzlich als Mitspieler, Statisterie. Sie alle wenden sich der Kamera zu. die immer weiter nach hinten und oben entschwebt. Nirgendwo öffnet sich der ersehnte Zuschauerraum. als würden wir nie aus diesem Albtraum erwachen. in dem wir offenbar als einzige keine Rolle gespielt haben. Doch die Scheidewand zwischen denen, die etwas vorführen, und denen. die zusehen, ist von Greenaway eingerissen worden. Er spielt auf eine Formel an. die nicht nur der Barockzeit eigen war: daß alle Welt auf einer Bühne steht. Ein junger, dicklicher. weiß geschminkter Mann, Fürst Cosimo. mit geckenhaftem Gefolge, folgt naiv, fast tölpelhaft dem Geschehen: ein in die Filmwirklichkeit vorgeschobener exponierter Zuschauer. Kaum kann er, so wenig wie wir, zwischen Täuschung und "echter" Tortur unterscheiden. Einmal ist er besonders erschüttert. Da beruhigt ihn sein Gefolge: es sei doch nur "ein Spiel mit Musik". Danach steigert sich noch der Schrecken, an dem der dumme und "rechtgläubige" Fürst mitwirkt. Zufrieden stößt er die geometrisch aufgestellten Holztürmchen um. jedesmal, wenn der armen Heldin von einem der Vergewaltiger Leid angetan wird. Er hält für Gerechtigkeit, was grauenhafte Folter ist.

In Greenaways Film sind die üblichen Lizenzen überschritten, symbolische Gewalt schlägt um in anscheinend reale physische Zerstörung, die Balance von Schuld und Sühne scheint aufgehoben, Strafphantasien nehmen Gestalt an, radikaler als in "Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber" (fd 27 556): da war die Vergeltung, ausgeübt im Mannsvieh, dem Dieb, der den gebratenen Leib des von ihm geschlachteten Liebhabers kosten muß, enorm und bizarr, aber nicht unbegreiflich. In "Das Wunder von Mâcon" werden die Wünsche nach einem heileren Leben schlimm geahndet. über jedes Maß hinaus. Liebesversuche enden im Blutbad, die Aufbegehrende wird hochmütig, im Wahn zur Kindsmörderin und elend zerrissen. Aus den vielen Brauntönen, dem Helldunkel, heben sich allmählich die Leitfar-ben der Mächtigen und Scharfrichter hervor: Rot und Schwarz, Blut und Tod. Da ruft keine Stimme von oben "Genug" oder "Gerettet". wie bei Hiob oder Fausts Gretchen. Am Ende krächzt nur der zerlumpte Prophet auf seiner Schaukel, daß die Zeit der Unfruchtbarkeit und des Hungers wieder angebrochen sei. Das schockierend ungeschönte Bild eines Neugeborenen in der "Benetton"-Werbung habe, so Greenaway, den Film mit inspiriert. Von der Sphäre trügerischer Eleganz stößt er sich viel weiter ab. als jede Reklame beabsichtigen kann: Greenaway taucht in den Nachtbereich der grimmigen absurden Trauerspiele ein. die stets die denkbar schlimmste Wendung nehmen.

Julia Ormond spielt "furios" die 18jährige. die berechnend und brillant verwegen sich überheben und die Welt betrügen will. die in verlockender Nacktheit den Sohn des Bischofs begehrt und von da an dem Verderben preisgegeben wird. Als wieder nackte Tote kippt sie aus dem Bett der Exekution. Ihr junger und unversehrter Körper ist entsetzlich geschändet worden. Und wir trauern, daß Greenaway selbst die Schönste und Unschuldigste von allen einem so bitteren Martyrium aussetzt. Ein grausames Spektakel, das peinigt und verstört, das auf vertrackte Weise alte Passionslegenden nachahmt und ungeachtet aller höhnischer Parodie doch ans Vorbild fixiert ist.
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