Mein halbes Leben

Dokumentarfilm | Österreich/Deutschland 2008 | 97 Minuten

Regie: Marko Doringer

Angespornt durch seine Lebenskrise sowie massive Selbstzweifel anlässlich seines 30. Geburtstags, sucht der Filmemacher alte Freunde auf, um zu sehen, wo diese beruflich wie privat stehen, inwiefern sich ihre Träume erfüllt haben und welche Vorstellungen und Erwartungen sie in ihrem Leben verfolgen. Aufschlussreicher Dokumentarfilm, der sich trotz oder gerade wegen seines subjektiven Zugangs zu einem ebenso präzisen wie lakonisch-humorvollen Generationenporträt rundet.(Weiterführung: "Nägel mit Köpfen") - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
MEIN HALBES LEBEN
Produktionsland
Österreich/Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Filmfabrik Marko Doringer/Nikolaus Geyrhalter Filmprod.
Regie
Marko Doringer
Buch
Marko Doringer
Kamera
Marko Doringer
Musik
Kristof Hahn · Viola Limpet · Les Hommes Sauvages
Schnitt
Marko Doringer
Länge
97 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Über einen gewissen Hang des österreichischen Kulturschaffens zur Selbstbespiegelung bis hin zur Selbstzerfleischung war schon viel zu lesen. Und wie fast alle Klischees verfügt auch dieses über einen wahren Kern. Der Filmemacher Marko Doringer tritt nun an, ein weiteres Beispiel für diese nationale Tradition zu liefern, ja, er macht sie zum Programm seines ersten abendfüllenden Dokumentarfilms: In „Mein halbes Leben“ beschreibt der 1974 in Salzburg geborene Filmemacher auf intime Weise die Lebenskrise, in die ihn sein 30. Geburtstag stürzte. „Wenn man es heute mit 30 nicht geschafft hat, ist alles vorbei“, so der inoffizielle Untertitel des Films. Und Marko Doringer hat es nach den üblichen gesellschaftlichen Standards ganz eindeutig nicht geschafft: „Ich habe keine abgeschlossene Ausbildung, keinen richtigen Beruf, keine Frau und keine Kinder. Bloß eine Lebensversicherung – aber die zahlt mein Vater für mich ein.“ Diese ebenso lakonische wie vernichtende Selbsteinschätzung bewegt Doringer dazu, seine Berliner Wohnung Richtung Heimat zu verlassen, um Eltern, Großeltern, vor allem aber alte Freunde und Weggefährten zu besuchen und zu überprüfen: Wo stehen die anderen mit 30? Haben sie erreicht, was sie sich erträumten? Ist es nur meine eigene Faulheit und Unreife, die mich noch immer in prekären Verhältnissen leben lässt? Oder gehört diese Unsicherheit heute einfach dazu? Was sagt die vorgeborene Generation dazu? Und was hat das alles mit meinem Vater-Konflikt zu tun? Mit bewusst naiver Haltung geht Doringer sein Projekt an, formuliert seine Fragen und Zweifel mit großer Offenheit, liefert seine Befindlichkeiten dem voyeuristischen Auge und Ohr der Kamera aus. Dennoch ist er selbst nur sporadisch im Bild zu sehen: immer dann, wenn er seinem Therapeuten gegenübersitzt. Es ist gerade die richtige Dosis, um den Film nicht in die enervierende Nabelschau kippen zu lassen. Denn obwohl Doringers Ausgangspunkt radikal subjektiv ist, gelingt es ihm doch, von einer ganzen oder im Grunde sogar zwei Generationen zu erzählen: Von den 30-Jährigen, die den Anspruch von „Freiheit“ und „Selbstverwirklichung“ an ihr Dasein stellen und dafür mit Existenzängsten oder Selbstzweifeln geplagt sind. Und von der Elterngeneration, die noch ganz auf „Sicherheit“ und konventionelle Rollen- und Gesellschaftsmuster setzte. Zu diesem Zwecke lässt der Filmemacher Katha auftreten, die ehrgeizig ihr Ziel einer internationalen Designerkarriere verfolgt und ihren Kinderwunsch in ein „paralleles Leben“ verschiebt. Des weiteren begegnet man Martin, einem festangestellten Sportjournalist mit netter Freundin – der dennoch etwas anderes will vom Leben, Auswandern vielleicht. Sowie Tom, der zwischen gut dotiertem Managerposten in Bulgarien und seiner Wochenendbeziehung in Österreich hin- und herpendelt. Über Jahre hinweg hat Doringer seine Jugendfreunde mit der Kamera begleitet, bei der Arbeit, im Privatleben oder bei Konfrontationen mit den Eltern. Doch Doringer ist alles andere als ein passiver Chronist: Er manipuliert Situationen, provoziert durch Fragen und Interventionen und fördert so Erhellendes wie Urkomisches, manchmal auch beides gleichzeitig zutage. Die große Vertrautheit zwischen Interviewer und Interviewten erweist sich dabei als eine der Stärken des Films, wie sich der intime Ansatz überhaupt als geeignet erweist, gerade universell Gültiges aufzuzeigen. Entscheidend zum Gelingen trägt der trockene Humor bei, mit dem der Filmemacher die Absurditäten des Alltags, die Befindlichkeitskrämerei seiner Altersgenossen, vor allem aber die eigenen Schwächen gnadenlos angeht, seine Hypochondrie sowie die private wie berufliche Erfolglosigkeit. Wozu natürlich immer auch ein bisschen Koketterie gehört. Am Ende hat Doringer nicht unbedingt Antworten auf seine Fragen gefunden, dafür aber eine Freundin, bezeichnenderweise und für diese stets mobile, finanziell ständig knappe Generation durchaus typisch bei einer Mitfahrgelegenheit. „Mein halbes Leben“ ist das präzise Porträt einer zwischen Pragmatismus und Prekariat, Kind und Karriere, Zweifel und Zufriedenheit zerrissenen Generation. Last but not least hat Doringer mit dieser in aller Öffentlichkeit zelebrierten Therapie die eigene Krise überwunden; mehr noch: Bei mehreren Festivals, darunter der Diagonale, wurde „Mein halbes Leben“ als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet, weshalb sich Doringer inzwischen als „richtiger“ Filmemacher fühlen darf. Etwas ganz Ähnliches gelang Doringers fast gleichaltrigem Landsmann Thomas Glavinic mit dem autobiografisch-selbstironischen Roman „Das bin doch ich“ (2007): Auch hier glückte mit dem Räsonieren über ausbleibenden Erfolg der Sprung auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. Die eigene Krise in Gold verwandeln: Auch dies eine österreichische Strategie?
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