Global Viral. Die Virus-Metapher

- | Deutschland 2010 | 81 (24 B./sec.) Minuten

Regie: Madeleine Dewald

Filmessay über Bild, Metapher und inflationären Gebrauch des Wortes "Virus", das mit einer enormen Materialfülle vom Seuchendiskurs bis zum Cyberterrorismus weite Bögen schlägt und den "viralen" Spuren in den unterschiedlichsten Weltanschauungen folgt. Die mäandernde Inszenierung folgt der fluiden Gestalt der komplexen "Virus"-Vorstellung, deren Kern nicht nur als das bedrohlich Fremde schlechthin, sondern zugleich auch als Synonym für höchste Flexibilität und kreatives Handeln erscheint. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Dock 43 Prod.
Regie
Madeleine Dewald · Oliver Lammert
Buch
Madeleine Dewald · Oliver Lammert
Kamera
Michael Hain · Jörn Staeger · Oliver Lammert
Musik
Lambart · Hedgeman
Schnitt
Madeleine Dewald
Länge
81 (24 B.
sec.) Minuten
Kinostart
19.07.2012
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Externe Links
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Diskussion
Eine „tolle“ Vorstellung: der menschliche Körper als Schlachtfeld, auf dem sich „das Fremde“ und „das Eigene“ bekämpfen, wenn „wir“ von einem Virus befallen sind. Aber „Virus“ ist auch ein Bild, ein Vorstellungskomplex, eine Metapher, um bestimmte Sachverhalte zu verhandeln. Überall finden sich Viren: im Computer, im Körper, in der Kultur, in der Psyche des Einzelnen, der sich vom „Virus der Erfolglosigkeit“ befallen fühlt. Eingangs heißt es sogleich: „Wo geht es lang?“ „Das hängt davon ab, wo du hin willst!“ „Global Viral“ von Madeleine Dewald und Oliver Lammert („Vom Hirschkäfer zum Hakenkreuz“, fd 35 813) ist ein Essayfilm, der Kapital daraus schlägt, dass die Macher sich offenbar lange nicht festgelegt haben, wohin sie genau wollen, sondern erst einmal Material gesammelt haben: „Wer heute vom Virus und viralen Phänomenen spricht, bewegt sich auf verschiedenen Bedeutungsfeldern und in ihren Schnittmengen“, so viel ist schnell klar. Doch was heißt das genau? Der Virus als krankmachendes Fremdes, der Virus als auf Symbiose mit dem Wirt zielende Einheit, der Virus als Metapher – allerlei durchaus reizvolle, weil widersprüchliche und komplexe Optionen geben dem filmischen fragilen Werk eine Struktur, die manchen an eine Zwiebel erinnern mag. Sagt der Virologe: Nur Viren waren evolutionär so erfolgreich wie der Mensch, der sich als Spezies vor diesem Herausforderer schützen muss. Hilft ein Blick in die Begriffsgeschichte? Oder in die bildlichen Vorstellungen, die die Begriffsgeschichte befeuerten? Kommt die Seuche aus der Fremde und führt zu Unmoral, Hunger und Krieg? Oder führen Hunger und Kriege zur Migration? Während der Off-Kommentar über historische Vorstellungen von den (maskierten) Seuchenträgern (oder: Schläfern!) berichtet, die beim Betrachter Bilder von „Nosferatu“ evozieren, zeigt der Film auf der Bildebene Aufnahmen vom Tourismus älteren Datums. Doch ist das Bild vom Viralen als dem Epidemischen nicht viel zu negativ, wenn man die Identität des Menschen als sozialem Wesen fluider fasst? Der Film macht es dem Betrachter nicht leicht; schnell springt man zu den nächsten Themen: die biologische Kriegsführung, Bakteriologie, und die Entdeckung eines neuen Kontinents durch die Entwicklung des Mikroskops. Medizingeschichte verwebt sich mit früher soziologischer Theorie: Gibt es im Sozialen ein Pendant zur Vererbung? Der Film häuft Material an: Es gibt Interviews mit Philosophen, Medizinern, Biologen, Kulturwissenschaftler, ein Klavier-Querflöten-Duo musiziert, der Sprecher des Off-Kommentars rückt ins Bild, dazu Archivmaterial und Aufnahmen, die durch ein Mikroskop gemacht wurden. Kurz darauf sind wir bereits bei den frühen Rechenmaschinen John von Neumanns, dem Zusammenhang von technischem Fortschritt und Militär, der Ethik der Naturwissenschaften, bevor Nietzsche ins Spiel gebracht wird. Wie kommt es, dass für uns die Kehrseite von Kooperation Infektion ist? Wie kommt es dazu, dass wir von Computerviren sprechen, und warum werden viel ältere Bilder durch diese Metaphorik aktualisiert? Gibt es kulturelle Evolution, die durch Ideen vorangetragen wird? Die Memetik eines Richard Dawkins geht davon aus und stellt damit gleichzeitig die Autonomie des Menschen in Frage und macht sie möglich. Bilden Viren Überlebensstrategien aus? Was unterscheidet beispielsweise die Tollwut von der HIV-Infektion? Hier, wenn die Rede auf AIDS kommt, nimmt sich der Film unvermittelt viel Zeit, um eine Geschichte zu erzählen. Ausgehend von Derek Jarmans „Blue“ (fd 30 686) wird der „long-time survivor“ Günni vorgestellt, der von seinem Leben mit dem Virus erzählt und Rosa von Praunheim zitiert: „Ein Virus kennt keine Moral“. Nach diesem Film im Film kehrt der Film zu seinem bisherigen Erzählduktus zurück und wird mittels des Sprachphilosophen Jacques Derrida selbstreflexiv: ist nicht auch die Sprache und das Sprechen über AIDS viral? Schließlich, fast eine Pointe: der Mensch wurde das, was er ist, im Laufe der Evolution auch im Kampf gegen die Viren, die dafür in Form von Retro-Viren Erinnerungen an diese Kämpfe hinterlassen haben. Das klingt gefährlich, doch, so eine Aussage, kein Virus hat Interesse daran, seinen Wirt zu töten. Womit wir uns auf der Zielgeraden befinden: Von den Überlegungen zum viralen Marketing ist nur ein kurzer Schritt hin zu William S. Burroughs („Language is a Virus“), der wiederum durch Nietzsche inspiriert sein könnte. Schließlich erscheint der Mensch – noch eine Pointe – als dynamischer Komplex und damit ähnelt er in bestimmter Hinsicht dem Virus, der auch nicht zu fassen ist – und seine Effekte in den Medien und den Köpfen erzeugt. Am Schluss scheint der Film selbst von seinem Diskurs erschöpft, er gönnt sich längere Einstellungen, konzentriert den Diskurs auf den Off-Kommentar, dem klar wird, dass der Entwirklichung der Science Fiction etwas entgegensetzt werden muss: „Ein echter Tiger kann einen echten Menschen fressen.“ Und ein Virus – Metapher hin oder her – kann einen Menschen krank machen. Und manche Filme muss man mehrfach anschauen, um den Reichtum ihrer essayistisch-offenen Form angemessen würdigen zu können.
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