Dokumentarfilm | Deutschland 2012 | 94 (24 B./sec.)/90 (25 B./sec.) Minuten

Regie: Inigo Westmeier

An der chinesischen Kung-Fu-Schule Shaolin Tagou leben 35.000 Schüler, Trainer und Lehrer, die unter nahezu militärischem Drill die traditionelle Kampfkunst erlernen und sie zunehmend perfekter exerzieren. Der mit poetischen Verdichtungen arbeitende Dokumentarfilm stellt drei Mädchen in den Mittelpunkt, über deren entbehrungsreichem Alltag ein vielschichtiges Bild der chinesischen Gesellschaft entsteht. Der von Neugier und Empathie zugleich getragene Film arbeitet mit Bildern und Klängen eindrucksvoll Zwischentöne heraus und bringt eine fremde Kultur trotz all ihrer unauflösbaren Widersprüche ein Stück näher. (O.m.d.U.; Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 10.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
Gap Films/Open Window Film Prod./BR/ARTE
Regie
Inigo Westmeier
Buch
Inigo Westmeier · Benjamin Quabeck
Kamera
Inigo Westmeier
Musik
Lee Buddah
Schnitt
Benjamin Quabeck
Länge
94 (24 B.
sec.)
90 (25 B.
sec.) Minuten
Kinostart
28.02.2013
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 10.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Polyband (16:9, 1.78:1, DD5.1 Mandarin/dt.)
Verleih Blu-ray
Polyband (16:9, 1.78:1, dts-HD Mandarin/dt.)
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Diskussion
Zwischen dem weiten Himmel und der Erde eines gepflasterten Platzes mit gigantischem Ausmaß gibt es – zunächst nichts. Dann rasen Tausende junger Menschen, teils noch Kinder, teils Heranwachsende, Jungen wie Mädchen, auf die Fläche, bevölkern sie in allerkürzester Zeit. Nicht etwa wild und wuselnd, vielmehr diszipliniert, geordnet und strukturiert, genauen symmetrischen Abläufen folgend. Fast militärisch nehmen sie eine Kampfposition ein, halten exakt den Abstand zum Nachbarn, was in der weiten Kameraeinstellung ein ebenso erschreckendes und faszinierendes Szenario ergibt: ein Ornament der Masse. Dieser für die Filmkamera so spektakuläre Anblick fokussiert den Alltag an der Kung-Fu-Schule Shaolin Tagou in der zentralchinesischen Provinz Henan. Es ist die größte nicht-staatliche Ausbildungsstätte in China, an der 35.000 Schüler, Trainer und Lehrer leben und arbeiten. Ein Ort der Strenge und Disziplin, an dem junge Menschen zu einem Teil der chinesischen Gesellschaft „gemacht“ werden. „Solange die Richtung stimmt“, erläutert einmal der Schulleiter, den man autoritär hinter seinem Schreibtisch erlebt, „das heißt, solange wir die Kinder technisch, moralisch und kulturell richtig gut ausbilden, ist jede Methode recht.“ Szenenwechsel: 1.400 Kilometer davon entfernt, in der Provinz Zhejiang im Südosten Chinas, ist nichts vom martialischen Lärm, vom bombastischen Einschwören der gedrillten Massen zu spüren. In dieser stillen, archaischen, von der Welt vergessenen Region ist das Mädchen Xin Chenxi zu Hause. Sein Name bedeutet „weil die Sonne am Morgen besonders munter ist“. Xin Chenxi ist neun Jahre alt, bald schon kehrt sie aus der heimischen Provinz an die Tagou-Schule zurück, wo sie bereits seit zwei Jahren ausgebildet wird und es schon ins Elite-Team geschafft hat. Hier, fernab der Schule, schaut man ihr direkt ins Gesicht: einem ungemein hübschen, quasi von innen heraus „strahlenden“ Mädchen, dem man aus tiefen Herzen wünscht, dass es sich „seine Welt“ erobern und erschließen darf. Anfangs glaubte Xin Chexi noch, dass sie auf der Schule fliegen lernen würde; mittlerweile weiß sie es besser. Sie erzählt von einem Traum, in dem sie als Prinzessin auf einem Nachtdrachen fliegt – und fallen gelassen wird. Viel später im Film wird sie ihre antrainierte Willensstärke zeigen: „Weinen bringt nichts. Man muss sich mutig der Situation stellen. Tränen sind ein Ausdruck von Unfähigkeit.“ Da hat sich ihr Gesichtsausdruck schon sichtlich geändert. Eindrucksvoll beweist der Kameramann Inigo Westmeier in seinem ersten eigenen Dokumentarfilm sein untrügliches Gespür für die jeweils richtige visuelle Verdichtung. Über seine poetische Kraft hinaus hat „Drachenmädchen“ selbstredend auch politische Brisanz: Indem der Film engagiert und nachdenklich zugleich Einblicke in ein immer noch viel zu fremdes Land gewährt, übt er zwangsläufig auch Kritik an dessen gänzlich anderer Kultur, innerhalb der das Verhältnis von Individuum und Kollektiv anders wahrgenommen wird als in den westlichen Gesellschaften. Aber Westmeier ist weder Politiker noch Anwalt für Menschenrechte noch investigativer „Schnüffler“, der verdeckt vor Ort recherchiert. Er ist zuallererst ein von unvoreingenommener Neugier und Wachsamkeit, Empathie und Einfühlungsvermögen geleiteter Beobachter, frei von (Vor-)Urteilen und Vorverurteilen. Und: Er ist ein „Sinnesmensch“, der mit Bildern und Klängen „modelliert“, um den Zwischentönen und versteckten Widersprüchlichkeiten optisch Raum zu geben. Aus seinen höchst sinnlichen Beobachtungen des Schulalltags baut sich schichtweise das Bild einer Gesellschaft auf, deren Leistungsprinzipien mit struktureller Gewalt einhergehen, die wiederum die Lebensläufe der jungen Protagonistinnen prägt. Neben Xin Chexi folgt die Kamera zwei weiteren Mädchen, das eine ist 15, das andere 17 Jahre alt. Man beobachtet alle drei, wie sie hart die Kampfkunst trainieren, wie sie mit Schmerzen und Niederlagen umgehen lernen; und man erlebt, wie sie auf den Leistungsdruck, den harten Regeln und den schulischen Drill reagieren – und auf ihre Einsamkeit, ihre enttäuschten Wünsche, ihre unerfüllte Sehnsucht nicht zuletzt nach so etwas wie Normalität. Am Ende ist der Blick des Betrachters geschärft, wobei sich der Blickwinkel deutlich verändert: Das ferne China bleibt mit all seiner Widersprüchlichkeit bestehen, doch seine drei wunderbaren jungen Repräsentantinnen haben ihm ein Stück von seiner Fremdartigkeit genommen: Sie laden dazu ein, die Nähe zu suchen, die Distanz zu überwinden.
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