Drama | Deutschland 2013 | 93 Minuten

Regie: Bernd Sahling

Bei einem zehnjährigen Jungen in Jena, der ein richtiger Zappelphilipp ist und noch immer nicht schreiben und lesen kann, wird die Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung ADHS diagnostiziert. Das Medikament Ritalin verändert seine Persönlichkeit jedoch so sehr, dass er nicht einmal mehr mit seiner Freundin um die Häuser ziehen will. Anrührend, dicht an der Realität und ohne in stereotype Erklärungsversuche zu verfallen, erzählt der Film von einem Kind, das um sein Lachen kämpft. Die mutige Inszenierung setzt weitgehend auf Laiendarsteller und fordert durch ihre offene Dramaturgie zum eigenständigen Mitdenken heraus. Alles andere als ein leichter Film, belohnt er Kinder wie Erwachsene zugleich durch seine bestechend ehrliche Erzählweise. - Sehenswert ab 10.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2013
Produktionsfirma
Neue Mediopolis Filmproduktion/Steelecht
Regie
Bernd Sahling
Buch
Bernd Sahling
Kamera
Anne Misselwitz
Musik
Ralf R. Ollertz
Schnitt
Jörg Hauschild
Darsteller
Marcel Hoffmann (Sascha) · Frieda Lehmann (Elli) · Claudius von Stolzmann (Frank) · Inka Friedrich (Frau Mertens) · Benjamin Seidel (Daniel)
Länge
93 Minuten
Kinostart
07.11.2013
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 10.
Genre
Drama | Familienfilm | Kinderfilm
Externe Links
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Diskussion
Wie lange kann es dauern, um in Deutschland einen Arthouse-Film für ein junges Publikum zu produzieren? Für „Kopfüber“ hat der Regisseur Bernd Sahling zehn Jahre gebraucht (vgl. Werkstattgespräch in FD 21/12). Dabei waren die Voraussetzungen gar nicht schlecht: Das Drehbuch wurde bereits 2001 mit Unterstützung der Akademie für Kindermedien entwickelt, kurz darauf bewies Sahling mit seinem ersten Spielfilm „Die Blindgänger“ (fd 36 746) sein Regietalent. Weil aber kein Fernsehsender das neue Werk mittragen wollte und damit die Türen anderer wichtiger Förderer verschlossen blieben, kostete der Film mehr als Ausdauer: „Kopfüber“ ist eine Überzeugungstat. Er erzählt eine betont alltägliche Geschichte zu einem kontroversen Thema: Sascha ist zehn Jahre alt, als bei ihm die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ADHS diagnostiziert wird, das „Zappelphilipp-Syndrom“. Zwar schafft es der Junge dank Therapie und Medikamenten, sich wieder in den Griff zu bekommen. Er wird nicht mehr ausfällig und lernt endlich Lesen und Schreiben. Dafür aber zahlt er einen hohen Preis. Nicht einmal seine beste Freundin Elli schafft es, ihn vom Sofa loszureißen: so schlapp machen ihn die Ritalin-Tabletten. Fortlaufend bemüht der Film das Stereotyp vom Problemkind, dessen (Fehl-)Entwicklung ein „krankes“ Umfeld mit zu verantworten hat – und doch argumentiert Sahling nicht in den zu erwartenden Kausalketten. Saschas alleinerziehende Mutter (Inka Friedrich) ist heillos überfordert mit Job, neuem Liebhaber und drei Kindern. Während Sascha wie sein großer Bruder immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt gerät und von der Förderschule zu fliegen droht, schimpft sie bloß und verhängt Strafen, die leicht zu ignorieren sind. Zugleich aber ist sie diejenige, die die Notbremse zieht und einen Erziehungsbeistand beim Jugendamt beantragt. Aus dem klischeehaften Setting erwächst so eine Form von Realismus, die einfachen Erklärungen und moralischen Urteilen zuwiderläuft. Daran merkt man, dass Sahling, der selbst als Familienhelfer gearbeitet hat, Kinder mit ähnlichen Problemen nicht fremd sind. Auch die meisten (Laien-)Darsteller, allen voran der überzeugende Marcel Hoffmann als Sascha, wurden gecastet, weil sie den Rahmen gut kennen, in dem sie agieren. Diese „Echtheit“ der Figuren ist Stärke wie Schwäche des Films: Manche Dialogzeile kommt so hölzern daher, dass sie den Zauber der Glaubwürdigkeit hin und wieder bricht. Insbesondere, wenn es um offensichtlich symbolische oder pädagogisierende Momente geht: „Freiwillig Hausaufgaben?“; „Dafür hängst du hier noch fest, wenn ich woanders richtig viel Kohle verdiene.“ Gleichwohl ist „Kopfüber“ ein höchst bemerkenswerter Film, vor allem weil er Saschas Fall aufrichtig schildert: aus dessen Perspektive, nah am Dokumentarischen, mit all den ungelösten Fragen und Problemen, die ADHS und ihre umstrittene medikamentöse Behandlung aufwirft. Im Unterschied zum Gros der deutschen Kinderfilme, deren Protagonisten sich in anderen Medien als unterhaltsam erwiesen haben, traut Sahling nach dem Vorbild seines Mentors Helmut Dziuba, dem Altmeister des DEFA-Kinderfilms, dem Publikum durchaus etwas zu: einen unbekannten Plot um eine nicht immer sympathische Hauptfigur, ein gesellschaftliches Reizthema und eigenständiges Denken. Das mag gängige Vorstellungen vom Kinderfilm durchbrechen, steht aber für die zutiefst humane Überzeugung, junge Menschen und ihre Belange ernst zu nehmen. Dementsprechend gesteht der Film auch Sascha zu, selbst zu handeln.
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