Coming-of-Age-Film | Mexiko 2019 | 112 Minuten

Regie: Hari Sama

Während 1986 in Mexiko die Fußball-WM stattfindet, taucht ein 17-Jähriger gemeinsam mit seinem besten Freund in den dunkel schillernden Parallelkosmos eines pansexuellen Nachtclubs ein. Dort verliert er sich unter dem Einfluss eines Avantgardekünstlers immer mehr in einer Welt aus Musik, Drogen, Sex, Kunst und Widerstand. Mit energiegeladenem Punk- und New-Wave-Sound sowie hingebungsvollen Darstellern inszeniertes Coming-of-Age-Drama. Vor dem Hintergrund einer Undergroundkultur erzählt es von einer gleichermaßen wilden wie zerbrechlichen Jugend, wobei gesellschaftliche Zeitbezüge nach außen gedrängt werden. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ESTO NO ES BERLIN
Produktionsland
Mexiko
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Catatonia Films/La Palma de Oro Films
Regie
Hari Sama
Buch
Rodrigo Ordóñez · Hari Sama · Max Zunino
Kamera
Alfredo Altamirano
Musik
Dalì Lantzeta
Schnitt
Rodrigo Ríos · Ximena Cuevas · Hari Sama
Darsteller
Xabiani Ponce de León (Carlos) · José Antonio Toledano (Gera) · Ximena Romo (Rita) · David Montalvo (Ajo) · Mauro Sánchez Navarro (Nico)
Länge
112 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Coming-of-Age-Film | Drama
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Heimkino

Verleih DVD
Salzgeber (16:9, 2.35:1, DD2.0 span.)
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Energiegeladenes Coming-of-Age-Drama eines 17-jährigen Mexikaners, der in den 1980er-Jahren in den schillernden Parallelkosmos der Undergroundkultur gerät.

Diskussion

Der 17-jährige Carlos ist ein Außenseiter. Seine Haare sind länger als die seiner Mitschüler, für Fußball interessiert er sich ebenso wenig wie für die rituellen Prügeleien zwischen seinen Klassenkameraden und den Jungs aus einer verfeindeten Schule. Carlos’ Vater ist lange weg, seine Mutter depressiv. Geschwister hat er keine, dafür aber einen besten Freund: Gera, der zusammen mit seiner älteren Schwester Rita im Haus gegenüber wohnt. Rita ist Sängerin einer Avantgarde-Punk-Band, die regelmäßig im angesagten, queeren Undergroundclub Aztec auftritt. Gera ahnt nicht, dass Carlos heimlich für Rita schwärmt. Und Carlos weiß nicht, dass Gera, der die Sexheftchen seines Vaters gegen Geld an Mitschüler verleiht, in Wirklichkeit schwul ist. Beide aber möchten unbedingt auch in das Aztec, für das sie eigentlich noch zu jung sind. Als Carlos das kaputte Keyboard der Band repariert, ist das ihre Eintrittskarte.

Carlos und Gera sind an ihrem ersten Abend im Club sofort fasziniert von der verruchten, rebellischen und freizügigen Subkultur, in der sexuelle Orientierungen und gesellschaftliche Tabus keinerlei Rolle zu spielen scheinen. Carlos gerät in den Dunstkreis des androgynen Avantgardekünstlers Nico, der mit radikaler Konzept- und Guerillakunst die spießige, homophobe Gesellschaft schockieren möchte. Immer mehr verliert und findet Carlos sich selbst in einem rauschhaften Kosmos aus Musik, Drogen, Sex, Kunst und Widerstand.

Coming-of-Age in den „darken“ 80ern

Dass dieser exzessive Coming-of-Age-Film, mit dem Regisseur Hari Sama seine eigene Jugend aufarbeitet, in den 1980er-Jahren spielt, sieht man an den Kleidern und Frisuren der Protagonisten: Carlos rasiert sich die Haare an einer Seite kurz, und Nico wirkt mit seiner vampirischen Aura wie eine Mischung aus Blixa Bargeld und David Bowie. Der Zeitgeist durchweht den performancekünstlerischen Habitus der Figuren, ihre systemsprengerischen Attitüden. Vor allem aber ist er in der energiegeladenen, brachial-pathetischen New-Wave-, Punk- und Industrial-Musik, im treibenden Elektro- und Gitarren-Soundtrack allgegenwärtig. „This is not Berlin“ spielt in den „darken“ 80ern und leuchtet den subversiven Reiz einer libertinen Parallelwelt aus, ohne die Augen vor deren Abgründen und hedonistischen Untiefen zu verschließen. Ein Werk mit Kultpotenzial also.

Dagegen merkt man dem Film kaum an, dass er 1986 während der Fußballweltmeisterschaft in Mexiko-City angesiedelt ist. Würden nicht hin und wieder mexikanische Fußballfans fahnenschwenkend durchs Bild schlendern, würden die Jugendlichen in der Schule keine Uniformen tragen, würden sie nicht spanisch sprechen, wiese der Filmtitel vollständig ins Leere. In den pulsierenden Clubs und Ateliers, den brachliegenden Fabrikhallen, den Jugendzimmern und Bastlergaragen nivellieren sich die Unterschiede zwischen Berlin und Mexiko-Stadt auf dekorative Abweichungen im Lokalkolorit. Im Grunde scheinen die Szenen, die Ideale, die Ansprüche austauschbar, als könnte das Aztec eben doch in Berlin sein.

Partys außerhalb der echten Welt

Diese Illusionsblase eines um sich selbst kreisenden urbanen Clubklüngels könnte jedoch zerplatzen, als ein Bekannter Nicos den Satz formuliert, dem der Film seinen Titel verdankt: „This is Not Berlin.“ In dieser verächtlich ausgesprochenen Tatsache schwingt ein Vorwurf mit: Die mexikanischen Künstler würden nur ihre europäischen Vorbilder kopieren, anstatt sich mit ihrer eigenen Kultur und Gesellschaft auseinanderzusetzen. Sie feierten Partys und sich selbst, während draußen, in der echten Welt, die Leute an Aids stürben. Mitten im Film hätte dieser Auftritt dem Streifen eine neue Richtung verleihen können. Stattdessen lässt Sama seine Protagonisten mit einem Achselzucken darüber hinweggehen. Der allgemeine historische und politische Kontext entgleitet dem Film dadurch ein wenig. Indem er sich dafür auf die individuelle Entwicklung seiner charismatischen und mit viel Feingefühl gespielten jungen Helden und Heldinnen fokussiert, gewinnt er als narratives Kunstwerk umso mehr an Profil.

„This is not Berlin“ geriert sich nicht als Kulturstudie oder Sozialporträt. Der Film arbeitet weder die Geschichte Mexikos noch der queeren Undergroundkultur Mexiko-Citys in den 1980er-Jahren beispielhaft auf, sondern er erzählt die ganz konkrete und möglicherweise autobiografische Geschichte eines 17-Jährigen, der erste Erfahrungen mit Drogen, Sex, Männern und Frauen macht. Es ist die Geschichte einer Freundschaft, die an all diesen Erfahrungen zu scheitern droht, die Geschichte einer heimlichen Liebe, einer zerrissenen Familie und einer unerfüllten Sehnsucht. Symbolisch gewendet passt der Filmtitel dann schließlich doch. Für Carlos bedeutet Erwachsenwerden nämlich auch, einzusehen, dass Mexiko-City eben nicht Berlin ist.

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