Dokumentarfilm | Tschechien 2020 | 105 (Schulfassung: 67) Minuten

Regie: Barbora Chalupová

Drei volljährige Schauspielerinnen eröffnen in sozialen Netzwerken ein Fake-Profil, geben sich als zwölfjährige Mädchen aus, posten ein unverfängliches Bild und warten ab, was passiert. Die Reaktionen protokolliert der Dokumentarfilm in teilweise quälender Länge. Es sind schockierende und aufrüttelnde Einblicke in die Abgründe des sogenannten „Cybergroomings“, bei dem sich Erwachsene in Missbrauchsabsicht gezielt Kontakt zu Minderjährigen suchen. Als gekürzte Schulversion und medienpädagogisch begleitetes Schulprojekt vermag der Film im Idealfall einen Beitrag dazu zu leisten, Jugendliche auf unterschätzte Gefahren im Internet hinzuweisen und ihre Medienkompetenz zu stärken. Die Kinoversion lässt sich mitunter jedoch zu sehr von der fragwürdigen Faszination mitreißen, den Missbrauch gleichsam „live“ mitzuschneiden. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
V SÍTI
Produktionsland
Tschechien
Produktionsjahr
2020
Regie
Barbora Chalupová · Vít Klusák
Buch
Barbora Chalupová · Vít Klusák
Kamera
Adam Krulis
Musik
Jonatán Pastircák
Schnitt
Vít Klusák
Länge
105 (Schulfassung: 67) Minuten
Kinostart
24.06.2021
Fsk
ab 16; f (Schulfassung: ab 12; f)
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm

Heimkino

Die DVD-Edition enthält die Kinofassung und die auf eine jüngere Altersgruppe abgestimmte und eingekürzte „Schulfassung“. Die Extras enthalten u.a. ein Feature mit im Film nicht verwendeten Szenen (15 Min.).

Verleih DVD
EuroVideo (16:9, 1.78:1, DD5.1 tschech./dt.)
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Dokumentarisches Experiment mit drei jungen Schauspielerinnen, die sich im Internet als zwölfjährige Mädchen ausgeben und innerhalb kürzester Zeit von knapp 2500 Männern in eindeutiger Absicht kontaktiert werden.

Diskussion

Das Szenario hielten die tschechischen Filmemacher Barbora Chalupová und Vit Klusák so simpel wie möglich. Drei erwachsene Schauspielerinnen geben sich im Internet als zwölfjährige Mädchen aus. Dafür werden ihnen in einer Filmhalle drei Kinderzimmer mit Requisiten aus ihrer eigenen Kindheit eingerichtet. Gemeinsam mit dem Filmteam durchforsten sie anfangs ihre alten Jugendzimmer, Dachböden, Kisten und Kartons, packen Klaviernoten ein, Pokale, selbstgemalte Bilder, ein Puppenhaus und sogar ein Kaninchen als Haustier. Nach dem „Umzug“ ins Filmstudio erstellen sie in mehreren sozialen Netzwerken Fake-Profile, in denen sie sich als zwölfjährige Mädchen ausgeben. Sie posten ein nettes, unverfängliches Bild und warten dann ab, was passiert.

Als hätten sie nur auf uns gewartet

Das, was dann geschieht, zeigt der Dokumentarfilm „Gefangen im Netz“ in teilweise verpixelten Bildern und quälender Länge. Binnen kurzer Zeit häuften sich die Kontaktanfragen um ein Vielfaches. Es sei, staunte Regisseurin Chalupová, als hätten sie nur auf uns gewartet. Die Schauspielerinnen hatten sich an eine Reihe vorher festgelegter Regeln zu halten. So durften sie selbst niemanden kontaktieren und auch in den Gesprächen nicht die Initiative ergreifen; stets mussten sie betonen, dass sie erst zwölf Jahre alt seien. „Und dass ich erst zwölf bin, stört dich nicht?“, lautete eine ihrer Standardfragen. „Nein, wieso sollte es?“, „Wenn es dich nicht stört.“, „Nein, ist doch normal.“, „Zwölf ist doch ein schönes Alter.“

Die Männer aus der Väter- und Großvätergeneration störte das nicht. Im Gegenteil. Nach nur wenigen Textnachrichten drängten sie meist zum Videochat, bei dem sie oft unverhohlen vor der Kamera onanierten. Viele forderten die Mädchen auf, sich ebenfalls vor der Kamera zu entblößen, was diese jedoch verweigerten. Dem Wunsch, Nacktbilder von sich zu verschicken, gaben die Darstellerinnen teilweise mit Hilfe von Fotomontagen nach. Einige Männer wollten die Mädchen daraufhin persönlich treffen. Auch das arrangierte die Filmcrew, unterstützt von Bodyguards und versteckten Kameras. Die Männer planten mit den vermeintlichen Kindern ihre Sextreffen. Einer brachte eine Freundin mit, und die beiden besprachen mit dem Mädchen den detaillierten Ablauf des geplanten Dreiers. Dass sie erst zwölf war, störte niemanden.

Kaum zu ertragende Abgründe

Zehn Tage lang ließen die Filmemacher ihr Projekt laufen. 2458 Männer kontaktierten die drei Darstellerinnen. Fast alle, bei denen es zur Kontaktaufnahme kam, verfolgten eindeutige sexuelle Absichten. Der Film zeigt nur eine, allerdings berührende Ausnahme. Bis auf diesen einen, der zu den „Guten“ gehörte, wie eine der davon völlig überwältigten Schauspielerinnen unter Tränen feststellte, verschickten die meisten anderen Männer Penisbilder, Links zu Pornoseiten, befriedigten sich vor der Webcam, verlangten Nacktfotos, setzten die Akteurinnen, von denen sie annehmen mussten, dass es noch Kinder waren, massiv unter Druck. Einer der Männer postete eines der gefakten Nacktbilder und versuchte das Mädchen damit zu erpressen. Mehrere boten an, Geld dafür zu bezahlen, wenn die Mädchen sich vor der Kamera auszögen. Es waren kaum zu ertragenden menschliche und männliche Abgründe, die sich da auftaten. „Und deine Mama ist nicht da?“, „Du bist ganz allein zu Hause?“

Obwohl die Filmemacher beteuern, das dies anfangs nicht geplant war, übergaben sie am Ende das Filmmaterial den tschechischen Strafverfolgungsbehörden. Dutzende Ermittlungsverfahren wurden eröffnet. Die Visagistin erkannte in einem der Männer einen Sozialarbeiter, der Kinder- und Jugendlager organisierte. Als die Filmemacher ihn am Ende vor seiner Haustür abpassten und zur Rede stellten, zeigte er keinerlei Unrechtsbewusstsein.

In Deutschland wird „Gefangen im Netz“ zusätzlich zum unter Corona-Vorbehalt stehenden Kinostart am 17. Juni online ausgewertet. Wer ein digitales Ticket kauft, ermöglicht damit zugleich die Vorführung einer Schulversion des Films in einer deutschen Schulklasse. Die Schulfassung ist auf 67 Minuten gekürzt und von der FSK ab 12 freigegeben; sie soll Jugendliche in ihrer Medienkompetenz fördern und, begleitet von flankierenden Unterrichtsgesprächen und Projekten, dazu beitragen, dass sie nicht unvorbereitet Opfer von „Cybergrooming“ (eine gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen in Missbrauchsabsicht) werden. Auch wenn das in der Öffentlichkeit längst kein Tabuthema mehr zu sein scheint, so ist es doch eines in den Familien. Kinder sprechen darüber meist nicht mit ihren Eltern und hören ihnen bei diesem Thema auch nur sehr widerwillig zu. Insofern kann ein Schulprojekt eine sinnvolle, unterstützenswerte Initiative darstellen. Aber braucht es da dann überhaupt noch den Kinofilm?

Eine fragwürdige Perspektive

Viele bedeutende und praktische Fragen, die rund um den Film im Presse- und Begleitmaterial thematisiert werden, etwa zur Prävention, zur Rolle der Eltern, zum Medienkonsum oder auch zum Verhalten der Kinder, spielen in der Kinoversion jedenfalls keine Rolle. Stattdessen schwelgt der Film auf mitunter fragwürdige Weise in seiner Mädchen-vs.-Monster-Dramaturgie. Minutenlang wird zwischen den zur Unkenntlichkeit verpixelten Männern mit aufgerissenen Augen und schmierigem Grinsen und den hochauflösend fotografierten, sich betont mädchenhaft-naiv gebenden Darstellerinnen hin und her geschnitten. Die skrupellosen Männer glauben zwar, dass sie es mit wehrlosen Zwölfjährigen zu tun haben, doch das Publikum weiß, dass dem nicht so ist. Dieses Wissen verändert die Dynamik. Eine erwachsene Frau, die ein Mädchen spielt, ist kein Mädchen.

Etwas ungewollt Zweideutiges schleicht sich in die Atmosphäre. Als wäre das alles bloß ein abartiges Spiel. Vieles, was Zwölfjährige verstören, einschüchtern oder traumatisieren könnte, wirkt in diesem Setting so unfreiwillig komisch, dass selbst die Filmcrew schmunzeln muss. Einmal können sie ein Lachen kaum unterdrücken, als einer der Männer jammert, er leide unter entsetzlichen Schmerzen, weil das Sperma in seinen Körper zurückgedrückt werde, wenn das Mädchen ihm nicht endlich seine Brüste zeige. Ein andermal lachen sie lauthals los, als ein Mann auf die verunsicherte Nachfrage, was seine Hand da unterm Tisch mache, erklärt, dass da etwas poliert werden müsse.

Warum sollte man den Film bis zum Ende sehen?

Im Interview für das Presseheft weist Regisseur Vít Klusák den Vorwurf des Zynismus zurück. Das Lachen funktioniere „wie ein emotionales Befreiungsventil und hilft dabei, dass man den Film bis zum Ende sieht und sogar die harten Passagen verkraftet.“ Aber warum sollte man sich eine solche Inszenierung – zumal in der deutschen Synchronfassung, in der die Pixelmänner mit ihren falschen Studiostimmen noch mehr wie gruselige Avatare anmuten – überhaupt bis zum Ende ansehen? Weil es spannend ist?

Was dem Film in der Kinoversion fehlt, ist ein Kontext, der das gleichsam live Miterlebte einordnet. Nur hie und da mal ein paar Worte zum Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen, zum Machtgefälle zwischen Tätern und Opfern, zu Studien, die feststellten, dass es sich bei den Tätern nur in den seltensten Fällen um Pädophile handelt. Oder ein paar Bemerkungen zur strafrechtlichen Seite. Gleichzeitig aber bleibt es unwidersprochen und unkommentiert, wenn eine der Darstellerinnen zu Beginn behauptet, ein Mädchen mit zwölf glaube heutzutage nicht mehr an den Weihnachtsmann, sie wisse ganz genau, was sie anstellen müsse, welche Knöpfe sie drücken müsse, damit ein Junge einen Ständer kriege. Ein Mädchen mit zwölf? Die Mädchen mit zwölf? Wirklich? Ist das der Ansatz, wie sie ihre Rolle interpretiert? Antworten auf solche Fragen liefert der Film nicht.

Man erfährt nicht viel über die Darstellerinnen. Eine wesentliche Information aber gibt es. 19 der insgesamt 23 gecasteten Frauen haben als Kinder oder Jugendliche selbst Erfahrungen mit Cybergrooming gemacht.

In "totale Verzweiflung" gestürzt

Der Kinoversion von „Gefangen im Netz“ ist eine Warnung vorangestellt. Im Film wird versichert, dass die zwar volljährigen, aber immer noch sehr jungen Darstellerinnen, deren tatsächliches Alter nie erwähnt wird, während der Dreharbeiten psychologisch betreut worden seien. Dennoch bleibt es ein heikles Unterfangen, junge Menschen, die im Netz selbst verstörende Erfahrungen gemacht haben, einem solchen Experiment auszusetzen. Laut Presseheft hat keine der drei Schauspielerinnen ihre Mitarbeit am Film bereut. Sie erklären im Gegenteil, stolz und froh zu sein, einen Beitrag dazu geleistet zu haben, einige Kinder vielleicht vor traumatisierenden Erfahrungen zu bewahren.

Eine der Darstellerinnen räumt allerdings ein, dass es während der Dreharbeiten einen Punkt gegeben habe, an dem sie in „totale Verzweiflung“ verfallen sei. „Ich hatte das Gefühl, dass alle Männer Kinderschänder sind und alle Kinder missbraucht werden.“ Aber das ist nur im Presseheft nachzulesen. Was die Dreharbeiten mit den Darstellerinnen gemacht haben, geht im Film, wie manches andere auch, beim Blick auf die verpixelten Gesichter und Genitalien weitgehend verloren.

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