Der Schutz der Flügel

Drama | Indien 1993 | 84 Minuten

Regie: Buddhadeb Dasgupta

Nach dem Tod seines Sohnes verliert ein Vogelhändler den Bezug zur Realität. Er übt seinen Beruf nicht mehr aus und unternimmt auch nichts, als seine Frau sich einem anderen zuwendet. Schließlich findet er unter den Flügeln eines riesigen Vogelschwarms für immer Schutz. Ein eindrucksvoll gestalteter Film, der sich metaphorisch mit dem Sinn des Lebens aus dem Blickwinkel des Hinduismus befaßt. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
CHARACHAR
Produktionsland
Indien
Produktionsjahr
1993
Produktionsfirma
Gope Movies (PVT)
Regie
Buddhadeb Dasgupta
Buch
Buddhadeb Dasgupta
Kamera
Soumendu Roy
Musik
Biswadeb Dasgupta
Schnitt
Ujjal Nandi
Darsteller
Rajit Kapoor (Lakhinder) · Laboni Sarkar (Sari) · Sadhu Meher · Shankar Chakraborty · Monoj Mitra
Länge
84 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung

Diskussion
Der Vogelhändler Lakhinder hat mehr Freude daran, die gefangenen Vögel in die Freiheit des Himmels aufsteigen zu lassen als sie dem Händler Shasmal zu verkaufen. So bleibt er dessen Schuldner. Die damit verbundene Abhängigkeit und Armut zerstört seine Ehe mit Sari, die nicht nur materielle Sicherheit vermißt. "Wenn ich Sari habe, habe ich die Vögel nicht, und wenn ich die Vögel habe, verliere ich Sari." Er entscheidet sich für die Vögel.

Ein Melodram möchte man meinen, wäre "Charachar" nicht als Parabel zu verstehen. Leise und still, traditionellen Erzählstrukturen verpflichtet, ist diese bengalische Produktion ein beeindruckendes Nachdenken in ''Bildern über das, was in hinduistischer Sicht Sinn von Welt ausmacht; ein spiritueller Film über -westlich formuliert - Weltverfallenheit und damit Tod und wirklichen Lebenssinn.

Die empirische Welt, in die wir durch unsere Geburt hineingesetzt wurden, sagt Buddhadeb Dasgupta, auch Schriftsteller und Lyriker, ist ein Gefängnis. An entscheidenden Stellen der Handlung bringt er Gitter ins Bild: die Gitter der Vogelnetze und -käfige, die vergitterten Fenster eines den Wohlstand seines Besitzers Natebar anzeigenden Hauses, die Fenstergitter eines Eisenbahnwagens auf der Fahrt Lakhinders nach Kalkutta zu einem profitablen Geschäft. Eine Ahnung, daß die Welt; ein Gefängnis ist, steigt in Lakhinder nach dem Tod seines dreijährigen Sohnes Netai auf. Die Selbstverständlichkeit, mit der er bisher seinem Geschäft nachging, ist unwiederbringlich verloren. Immer öfter läßt er seine gefangenen Vögel frei.

Die vedische Religion kennt einen äußerst komplizierten Ritus eines Feueropfers für den Schöpfergott Prajapati, dem Herrn der Geschöpfe. Der Feueraltar, Agni genannt, hat die Gestalt eines Vogels, dessen Bestimmung ist, zum Himmel oder zur Sonne aufzusteigen, den Opferer dorthin zu tragen. Der Agni-Vogel trägt den Opferer in die Lichtwelt, geleitet ihn im Tod in die Unsterblichkeit. Auf dieses vedische Ritual greift Dasgupta zurück. Seine Vögel sind Realsymbole des Agni-Vogels. Der innere Konflikt Lakhinders erreicht in Kalkutta seinen Höhepunkt und seine Überwindung, als er von einem Vogelhändler zu einer kultischen Vogelzeremonie eingeladen wird. In dem dabei gesprochenen Gebet heißt es unter anderem: "Unsere Körper sind wie die irdenen Krüge. Wenn wir sterben, wird die Seele zum freien Vogel. Sie verläßt den Körper, vereint sich mit dem weiten Himmel. O Vögel, ich lasse euch frei.

Den Gästen der Zeremonie wird Vogelfleisch vorgesetzt. Ein Sakrileg, denn den Opfernden ist der Verzehr von Vögeln verboten. Lakhinder rebelliert gegen diese Blasphemie und Heuchelei. Er kehrt in die Wälder zurück und verweigert sich von nun aller Geschäftigkeit. "Die Erde ist da, der Himmel. Sie werden für mich sorgen." Er hat seine Gitter gesprengt und wird wie Netais Vogel zurück ins Blaue fliegen.Gedreht wurde an idyllischen Schauplätzen Bengalens und Orissas. Herrliche Wälder; Flüsse und das Lied der Vögel in der freien Natur, deren metamorphorische Bedeutung entscheidend ist. Das Wasser, nach der vedischen "Wasser-Kreislauf-Lehre", auf die Dasgupta wohl Bezug nimmt, ist Träger des Lebens: Es strömt vom Himmel, belebt die Natur einschließlich des Menschen, fließt als kleiner ruhiger Fluß in einen großen und dieser wiederum ins Meer, welches in den Upanishaden Sinnbild des höchsten Gottes ist. In der eindrucksvollen Schlußeinstellung werden Vogel-, Gitter- und Wassermotiv zusammengeführt. Die Kamera führt von Lakhinder, der auf dem Bette liegend von einer unüberschaubaren Anzahl von Vögeln umgeben ist, auf das offene Meer zu (an dem das Haus nicht liegt). Das Rauschen der Brandung vereint sich mit dem Flügelschlag der am Himmel kreisenden Vögel. Der Agni-Vogel ist zum höchsten Sein aufgestiegen, beide sind eins geworden. Die Weltverfallenen, das sind die (Vogel-)Händler; Stromleitungen liegen wie Netze über Land und Leute; Industrie verpestet die Luft, die Vögel können nicht mehr singen. Mit Sari kann man sich identifizieren; um materiell überhaupt leben zu können, muß man sich in gewisser Weise den Geschäften hingeben. Sie gibt ihren Körper Natibar, dem erfolgreichen Gehilfen des Händlers Shasmal, hin, damit sie und Lakhinder etwas zu essen haben. Auch weil Lakhinder sich ihr als Person entzieht, will sie wegfliegen, frei sein. "Wenn du von hier weg gehst, wirst dur nur in einem anderen Käfig landen", entgegnet ihr Lakhinder. Saris seelische und lebenspraktische Bedürfnisse sind für ihn letztlich nicht entscheidend. Er muß seinen Weg ohne Rücksicht auf andere und anderes gehen, allein gehen. Auch die ihm seelenverwandte Tochter seines Freundes Bushan kann ihn nicht begleiten. Eine wundervolle Parabel - einschließlich einer am konkreten Lebensvollzug orientierten Ebene - über die konsequente Ausrichtung an der wirklichen Ordnung der Welt Zugleich nimmt der Film jene ernst, die in dieser Radikalität nicht zu leben vermögen.
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