Kreuz und quer

Dokumentarfilm | Deutschland 1996 | 87 Minuten

Regie: Hans Andreas Guttner

15 Jahre nach seinem Dokumentarfilm "Familie Villano kehrt nicht zurück" (1981) beobachtet Hans Andreas Guttner die zweite und dritte Generation jener einst zehnköpfigen italienischen Familie, die er damals in den Mittelpunkt der Diskussionen um die Rückkehr der "Gastarbeiter" in ihre Heimatländer oder aber deren Integration in die Bundesrepublik Deutschland stellte. Der Film besucht die heutigen Familienmitglieder diesseits und jenseits der Alpen und beobachtet unspektakulär, aber einfühlsam und geduldig ihre Lebensumstände. Er fängt ihre Sorgen, Wünsche und Probleme ein und stellt sie als "Lebensbilder" dar, die reizvolle Erkenntnisse über die "europäische Familiengeschichte vom Ende des 20. Jahrhunderts" ermöglichen. - Ab 12.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Guttner Film/SFB
Regie
Hans Andreas Guttner
Buch
Hans Andreas Guttner · Werner Petermann
Kamera
Hermann Hoebel · Friedel Klütsch
Schnitt
Jean André
Länge
87 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 12.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
1981 drehte Hans Andreas Guttner den Dokumentarfilm "Familie Villano kehrt nicht zurück" (fd 23 686). Diese dokumentarischen Beobachtungen aus dem Leben einer zehnköpfigen italienischen Familie in Fürth vermittelten wichtiges, konkretes Anschauungsmaterial in einer Zeit, als Politiker entweder die Rückkehr der "Gastarbeiter" in ihre Heimatländer oder aber deren Integration in die Bundesrepublik Deutschland forderten. Wie wenig solche Entweder- oder-Forderungen mit der Wirklichkeit zu tun haben, dafür war das Hin und Her der Familie Villano zwischen Süditalien und Franken damals ein beredtes Beispiel. Inzwischen steht die zweite Generation derer, die man damals als Arbeitskräfte nach Deutschland verpflichtete, mitten im Berufsleben, eine dritte Generation, die in Deutschland geboren wurde, ist bereits erwachsen oder wächst heran. Mit dieser zweiten und dritten Generation der Villanos beschäftigt sich Guttner, der 14 Jahre nach seinem ersten Film die Großfamilie in Deutschland und Italien wieder besucht hat. "Kreuz und quer" - der Titel weist darauf hin, daß für die Villanos die Diaspora eingesetzt hat. Obwohl sie um jeden Preis zusammenbleiben wollten, sind sie nun doch diesseits und jenseits der Alpen verstreut. Der Film beginnt auf der Reise nach Italien und verweilt über die Hälfte der Zeit in einem Vorort von Neapel, wohin die Eltern Giuseppe und Vincenza nach ihrem Berufsleben in Deutschland zurückgekehrt sind. Erst nach dem unerwarteten Tod Giuseppes während der Drehzeit begibt sich Guttners Film wieder auf die Straße und nach Deutschland, wird in der zweiten Hälfte zum dokumentarischen Road Movie und pendelt kreuz und quer zwischen den verschiedenen Familien Villano (die zum Teil nun auch anders heißen) zwischen Görlitz und Fürth hin und her.

Bis auf wenige grundlegende Informationen schickt Guttner auch in diesem Film sein Publikum ohne Kommentar auf die Reise in Pizzerien und Eisdielen in Deutschland und in eine äußerst ärmliche Wohnsiedlung bei Neapel. Man soll sich zurechtfinden in den Alltagsbeobachtungen der Kamera vom Leben auf der Straße in Neapel, in den Begegnungen verschiedener Familienteile und den Erzählungen der Familienmitglieder. Das Sichzurechtfinden macht keine Probleme, allerdings wird dem Zuschauer viel Geduld ob der unspektakulären Erzählweise abverlangt. Denn das, was die Fortsetzung von Guttners epischen Beobachtungen im Familienkreis der Villanos erzählt, läßt sich kurz zusammenfassen: Giuseppe und Vincenza setzen sich intensiv mit dem Gedanken an den Tod auseinander - daß Giuseppe dann wirklich stirbt, verleiht seinen vorherigen Aussagen beinahe prophetischen Charakter. Die Söhne und Töchter schlagen sich in Italien und Deutschland beruflich mit wechselndem Erfolg durch und wünschen sich für ihre Kinder nur das eine: daß sie es einmal besser haben, studieren können und keine Pizzabäcker oder Wirtsleute wie ihre Eltern werden. Wenn dieser Film einen dokumentarischen Erkenntnisprozeß befördert, dann den, wie ähnlich die Sorgen, Wünsche und Probleme der verschiedenen Familienangehörigen doch sind: neben dem Schmerz über den Tod des Vaters oder Schwiegervaters steht der Verlust der Großfamilie im Vordergrund. Alle beschwören den familiären Zusammenhalt, können ihn aber wegen der großen Entfernungen nicht mehr kontinuierlich herstellen. Diejenigen der zweiten Generation, die es geschafft haben, sich mit einer Pizzeria oder einer Eisdiele selbständig zu machen, schuften wie die Eltern früher unter Preisgabe jeglicher Freizeit - die Parallele zur deutschen Wirtschaftswunder-Generation ist hier frappierend. Eine Aussage der Mutter Vincenza ist bezeichnend für dieses Lebensgefühl: "Ich glaube, unglücklich sind wir geboren und unglücklich werden wir sterben." Trost bietet neben den sporadischen Familienzusammenkünften nur die Kirche - im Film ist es eine Prozession für die Madonna, bei der die Villanos eine meterhohe Kerze tragen. Minutenlang registrieren Ton und Kamera, wie während der Prozession reihenweise erwachsene Männer ihren Emotionen freien Lauf lassen, zusammenbrechen und davongetragen werden. Aus der Kirche, in die sie getragen werden, schallen unbeherrschte Klagelaute.

Der Regisseur greift in die Erzählungen der verschiedenen Familienmitglieder nur ein einziges Mal ein, als ein Sohn kurz nach dem Tod des Vaters darüber nachdenkt, wie wenig sein Vater vom Leben hatte. Der Mann, der wie alle anderen der zweiten Generation fließend regional gefärbtes Deutsch spricht, verwendet den Begriff "egoistisch" für das fürsorgliche Verhalten des Vaters falsch. Guttner korrigiert mehrmals aus dem Off und ist sichtlich bemüht, seinem Gegenüber dabei zu helfen, für seine Gedanken und Gefühle eine sprachliche Form zu finden. Aus diesem Bemühen spricht die Vertrautheit des Dokumentaristen mit seinen Gegenübern. Sie sind keine reinen Interviewpartner für ihn, sondern Menschen, denen er - wie Guttner selbst in Anlehnung an Robert Flaherty sagt, "ins Herz schauen" möchte. Dieser intime Blick gelingt Guttner an einigen Stellen. Vincenzas Überlegungen über den Tod am Filmanfang sind sehr freimütige Äußerungen, denen man anmerkt, daß die Frau den Filmautor schon lange kennt. Trotz dieser Offenheit kommt man den beobachteten Menschen nicht wirklich nahe. Es bleibt eine gewisse Distanz, die Guttner vielleicht bewußt nicht abbauen will. Im zweiten Teil, in dem Guttner die jungen Paare der zweiten Generation in Deutschland besucht, verändert der Film seinen Rhythmus. Er springt zwischen vier Familien hin und her, erzählt die Geschichte vom Familiengefühl und beruflichem (Miß-)Erfolg der zweiten Generation. Hier bestätigen sich die Aussagen eher gegenseitig, als daß sie überraschende Neuigkeiten böten. Gegen Ende des Films erstaunt noch einmal das Geständnis einer Frau, die zugibt, daß es ihrer Familie wegen beruflicher Rückschläge längst nicht so gut geht, wie sie sich das wünschte. Das Problem des Paares, das zuletzt vorgestellt wird, weist bereits auf eine mögliche Fortsetzung von Guttners Langzeitbeobachtung in etlichen Jahren voraus: Angelo arbeitet 72 Stunden in der Woche in einer Pizzeria. Da bleibt kaum Zeit für seine deutsche Freundin. Gemeinsam überlegen die beiden, wie sie die Situation ändern können, ohne aber eine schnelle Lösung parat zu haben. Die "europäische Familiengeschichte vom Ende des 20. Jahrhunderts", die der Verleih ankündigt, ist - das liegt in der Natur von Familienchroniken - noch lange nicht zu Ende.
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