Unter den deutschen Darstellern ist kaum jemand in Kino und Fernsehen so omnipräsent wie der 1963 geborene Thorsten Merten. Am Montag, 8. Februar, ist er als Ermittler im ZDF-„Spreewaldkrimi“ zu sehen. Er ist Teil des Weimarer „Tatort“-Teams, er spielt in Serien von „Babylon Berlin“ bis „Das letzte Wort“ mit, er brilliert als Stammschauspieler bei Andreas Dresen oder glänzt in Kinofilmen wie „Curveball“ in denkwürdigen Nebenrollen. Über einen Meister der verlässlichen und doch immer wieder überraschenden Auftritte.
Oft heißt es ja, man müsse für die Schauspielerei „brennen“, um es darin zu etwas zu bringen. Ein Wink mit dem verkohlten Zaunpfahl, der vor allem Berufsanfängerinnen über Zweifel und eigene Grenzen hinwegscheuchen soll. Doch zumindest beim Karrierestart eines der bekanntesten deutschen Filmgesichter spielte tatsächlich die erhöhte Körpertemperatur eine Rolle.
Als der damals noch unbekannte Regisseur Andreas Dresen das Casting für sein Spielfilmdebüt „Stilles Land“ (1992) schon fast beendet hatte, betrat als Letzter ein dünner, flatterhaariger Absolvent der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ den Raum. Er hatte unter anderem seinen „Diplom-Kabarettisten“ in der Tasche und wusste, wie richtiges Timing geht.
Schon in diesem Moment, erinnert sich der Regisseur in der Biografie „Glücks Spiel“ von Hans-Dieter Schütt, „war dieses merkwürdige Leuchten“ in den Augen des Unbekannten, eine „besondere Aura“. Dieser „fast irre, unwirkliche Blick, der visionär und verzweifelt zugleich wirkte“, überzeugte Dresen sofort, ebenso wie „diese linkische Art, wie er sich im Studio bewegte, zwischen Schüchternheit und einem gauklerischen Wahnsinn“.
Thorsten Merten, so hieß der bezirzende Jungschauspieler, war am Tag jener Probeaufnahmen stark erkältet. Auch wegen des Fiebers, mutmaßt Dresen, hätten diese Augen so „faszinierend knallblau“ geleuchtet. Entzaubert hat ihn das nicht, künstlerische Inspiration und der Boden infektiöser Tatsachen schließen einander ja nicht aus. Merten jedenfalls gehörte fortan zu Dresens Stammschauspielern: als sinnlich säuselnder Radiomoderator „Magic Chris“ in „Halbe Treppe“, als personifizierter Gehirntumor in „Halt auf freier Strecke“, als desillusionierter Puppenspieler in „Gundermann“. Das Fieber hatte allen Beteiligten Glück gebracht.

Ein Spezialeffekt für sich
Merten ist aber auch wirklich überall. Mal im Zentrum, mal fast durchscheinend in der Peripherie, aber immer präsent. Selbst nach winzigsten Parts wie im Fernsehfilm „Exit“ (Regie: Sebastian Marka) schwärmt ein Kritiker in „Spiegel Online“, der Auftritt „des großen Thorsten Merten“ sei schon „ein Spezialeffekt für sich“. Obwohl der Schauspieler nicht viel mehr zu tun hatte als mit panischem Blick – die blauen Augen! – sein blutüberströmtes Gesicht an die Fensterscheibe einer Sauna zu drücken, in die er gesperrt worden war, und zu fragen: „Wollen Sie Geld?“
Es mussten schon, außer den blauen Augen, noch ein paar weitere Eigenschaften und Fähigkeiten hinzukommen, um Thorsten Merten zu jenem verlässlich bodenständigen Typen und doch auch immer wieder überraschenden Charakter werden zu lassen, auf den sich vom experimentierfreudigen Nachwuchsregisseur – auch Axel Ranisch und Aron Lehmann setzten früh auf ihn – über den öffentlich-rechtlichen Quotenapparat bis zum Global Player Netflix alle einigen können.
Ein entscheidender Faktor dürfte sein: Besonders in improvisierten Szenen fährt Merten zur Höchstform auf. In Axel Ranischs „Alki Alki“ etwa: Man hat dem Merten-Mann mal wieder übel mitgespielt, denn sein Geschäftspartner (Heiko Pinkowski) ist alkoholkrank und vergeigt ihm die Aufträge. Zwar ist er so nett und besucht seinen Kumpel in der Reha, aber nur, um ihm zu sagen, Therapie sei doch nur eine modische Erfindung, genau wie Burnout: „Stell dir mal vor, mein Großvater, der war Bauer. Wenn der Burnout gehabt hätte, wär’ der morgens um fünf – hätte der gesagt: Leck’ mich am Arsch mit den Kühen, ich hab’ Burnout!“ Darauf Pinkowski, leise und trostlos: „Ich brauche keinen Zyniker, ich brauche einen Freund.“ Es endet, trotz anwesender Schwäne, unsentimental mit einem „Ja, hau doch ab“.
Der Mut, eigene Dialogsätze zu erfinden
Improvisieren, sagte Dresen über Merten 2006 im „Nordkurier“, sei eine „Spezialbegabung“. Nicht jeder habe den Mut, eigene Dialogsätze zu erfinden und sich so in eine Situation fallen zu lassen, dass sich daraus unter Umständen ganz andere Dinge entwickelten. Merten hat diesen Mut. Die Kategorien „Charakterdarsteller“ und „Typenbesetzung“ sind bei ihm auch deshalb fluide, er erschafft etwas Drittes, unterschwellig Rumorendes.
Geboren 1963 im thüringischen Ruhla, wollte er eigentlich Journalist werden. In einem Interview mit der „Thüringer Allgemeinen“, bei deren Vorgängerblatt „Das Volk“ er in Eisenach Anfang der 1980er-Jahre volontierte, erzählte er, wie seine Reporterkarriere gleich zu Beginn endete. Bei der Aufnahmeprüfung fürs Studium habe er „arglos ein Kabarettstück über die Zeitungslandschaft der DDR aufgeführt“. Das sei es dann gewesen.
Er spielt oft Menschen in einem beruflichen Abhängigkeitsverhältnis, die den Mund aufmachen. Die sich nicht für dumm verkaufen lassen wollen, sich aber dann doch für dumm verkaufen lassen müssen. Seine markanten Falten überm breiten Mund mit den schmalen Lippen braucht er nicht übermäßig in Aktion versetzen, um zwischen einem zufriedenen oder abfälligen Lächeln zu wechseln oder das Grauen hinauszuschreien. Er kann auch, mit gepflegtem Klobrillenbart, braunen Löckchen und randloser Brille wie im Tatort „Ein Tag wie jeder andere“ (Regie: Sebastian Marka), den biederen Anwalt geben, der unter höchster innerer Anspannung mit einem renitenten Taxifahrer zu den Bayreuther Festspielen aufbricht, um dort zu morden. Doch selbst im feinen Zwirn wirkt sein scharf geschwungenes Profil mit dem Muttermal auf der rechten Wange wie von Brueghel gemalt: dörflich, seit Generationen auf sich gestellt, genau beobachtend.

Emsig und mitunter aufmüpfig
Seit 2010 prägt er als Polizeihauptkommissar Martin Fichte den schaurig gemütlichen „Spreewaldkrimi“ im ZDF, als Kurt Stich schaut er seit 2013 seinem untergebenen „Tatort“-Ermittlerduo Lessing und Dorn auf die Finger. Auch in „Babylon Berlin“ ermittelt er – in einer Nebenrolle – in der Mordkommission. Wo immer es den emsigen und mitunter aufmüpfigen Mann der mittleren oder höheren Verwaltungsebene zu spielen gibt, ist Merten zur Stelle. Mit seiner leicht vernuschelten, manchmal an den frühen Dieter Hallervorden erinnernden Sprachfärbung wirkt er in Chefetagen immer etwas fehl am Platz. Da spielt er dann den jovialen Büro-Conférencier im schlechtsitzenden Anzug und stolz auf die Häppchen: „Nehmsedochblatz, isallsfrisch.“ Zwischen den Zeilen, das kann kaum einer so wie Merten, funkelt die Angst vor dem Offenbarwerden der eigenen Minderwertigkeit.
„Dieses permanente ,Ich genüge nicht‘ ist mir persönlich sehr vertraut“, gibt Merten in einem Interview zu, das Netflix jüngst zu „Das letzte Wort“ produziert hat. Für eine der brillantesten deutschen Serien der letzten Jahre (unter der Regie von AronLehmann, mit dem Merten bereits in „Kohlhaas oder DieVerhältnismäßigkeit der Mittel“ und „Die letzte Sau“ gearbeitet hat), lieferte Merten nicht nur die Idee, er spielt auch an der Seite von Anke Engelke die männliche Hauptrolle, den kurz vor der Pleite stehenden Bestatter Andreas Borowski. Eheprobleme, altmodisches Geschäftsmodell – dem Andi steht das Wasser bis zum Hals. Mal wieder meinen es die Zeitläufte nicht gut mit dem kleinen Mittelstandsmann, und natürlich eskaliert die Situation. Merten versteckt sich sturzbetrunken und mit sperrigen Gliedmaßen in einem Sarg, während im Bildvordergrund die neue Mitarbeiterin (Engelke) die Kundschaft notdürftig bei der Stange hält.
Die Verbindung von Komik und Tod: das angestammte Terrain des Gauklers. Wo andere mit feinem Florett mehr oder weniger glaubhaft Komplexität simulieren, kultiviert Merten beherzt den Mann der fehlenden Zwischentöne. Es ist oft der Tonfall des herausbrechenden „Das wird man wohl noch sagen dürfen“. Das ist zwar nur eine der Merten’schen Facetten, aber sie schwingt in vielen seiner Rollen mit. Seine Figuren erwarten nichts Gutes, sehen sich dann aber trotzdem staunend oder resigniert einer Realität gegenüber, die selbst das noch unterbietet. Sie nehmen sich sehr ernst und sind stinksauer, wenn andere dies nicht tun. Aus Not, Gewohnheit oder Komplexen heraus flunkern und schwindeln sie, und wenn das nicht mehr funktioniert, greifen sie zum cholerischen Anfall. Oder zur Flasche. Was Merten aber lieber in den Slapstick kippen lässt als ins Pathos.

In Höchstform bei auferlegten Grenzen
Seinen Raum nimmt er lustvoll komödiantisch ein, doch wenn ihm Grenzen auferlegt werden, ist er beinahe noch besser. Es genügen ihm zum Beispiel seine beiden kurzen, von auffallend sparsamer Gestik und kargen, leisen Sätzen geprägten Szenen in „Gundermann“, um Schlüsselszenen aus ihnen zu machen. In vermeintlicher Ruhe verschränkt er da die Arme wie eine Bastion gegen Gundi (Alexander Scheer) und fängt dann grimmig den Ball seines kleinen Sohnes, mit Händen, die er womöglich sonst seinem Verräter-Freund um die Gurgel gelegt hätte.
Allein in der Unternehmungslust, mit der Merten als BND-Mitarbeiter Schatz in dem Politthriller „Curveball“ von Johannes Naber die Kuchengabel in den Käsekuchen sticht, als wäre der süße Pampf die CIA, der er es jetzt aber mal so richtig zeigt, steckt die ganze Klein- und Gemeinheit deutscher Aggression, die sich in der Geschichte immer wieder so gern zu Massen-Monstrositäten summiert. Der „Tagesspiegel“ schrieb, in dem Film wirkten die Agenten „wie Angestellte der Stadtverwaltung, eine graublaue, aber in Gestalt des bauernschlauen Opportunisten Schatz auch gefährliche Truppe“.
Kaum etwas fürchtet ein Opportunist andererseits mehr, als zum allzu sichtbaren Einzelrebellen zu werden. In einer seiner ergreifendsten improvisierten Szenen, in der Film-im-Film-Tragikomödie „Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel“, verkörpert Merten einen Schauspieler, der an seine Grenzen gerät, weil der Regisseur (Robert Gwisdek) mangels Geld ganz auf die Vorstellungskraft der Crew und der Zuschauer setzen muss. Der Großteil des Ensembles ist bereits geflüchtet, Mertens Figur steht kurz davor: „Ich kann das nicht! Ich begreif’ das nicht“, schreit er an einer mondbeschienenen Bushaltestelle den Regisseur an. „Und ich will doch!“ In den Pausen bekommt man eine Ahnung von den Krisen eines um Selbstanspruch und Geldverdienst ringenden Künstlers. Merten, Fieber im Blick: „Bin doch Schauspieler. Ich spiel’ dir ’nen LKW-Fahrer, ich spiel’ dir sogar ’nen LKW-Reifen! Mach ich! Aber das – das kann ich nicht!“ Und in dem Moment, in dem alle Grenzen eingerissen sind und er dem Burnout nahe ist, kommt aus dem Dunkel die Muse und küsst ihn auf die heiße Stirn.
