© IMAGO/APress International (Sofia Otero)

Goldener Bär für „Sur l’Adamant“

Mittwoch, 08.03.2023 15:04

Die Entscheidung für den Dokumentarfilm "Sur l'Adamant" von Nicolas Philibert ist eine echte Überraschung

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Der französische Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“ von Nicolas Philibert hat bei der Berlinale 2023 den „Goldenen Bären“ gewonnen. Mit Christian Petzolds „Roter Himmel“ gewann der überzeugendste von fünf deutschen Wettbewerbsbeiträgen den „Großen Preis der Jury“; zudem gingen weitere Auszeichnungen an die Schauspielerin Thea Ehre in „Bis ans Ende der Nacht“ und an „Music“ von Angela Schanelec.


In manchen Berlinale-Jahrgängen gibt es einen alles überragenden Favoriten, an dem die Jury schlicht nicht vorbeikommt; in anderen Jahren drängen sich verschiedene Beiträge gleichermaßen auf. 2023 hingegen präsentierte sich der Wettbewerb bis zum Schluss in solider, aber selten hervorstechender Form, sodass die Jury-Entscheidung eine echte Überraschung war. Mit dem Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“ von Nicolas Philibert ging der „Goldene Bär“ an eine Arbeit, die vor allem durch ihre unerwarteten Einblicke in die Kreativität von Menschen mit psychischen Problemen auffällt.

Der französische Filmemacher Nicolas Philibert erweist sich darin einmal mehr als sensibler und gelassener Beobachter, der sich in diesem Fall auf ein Hausboot auf der Seine begibt, das seit 2010 als Tagesklinik genutzt wird. Der Film zeigt die musikalischen, dichterischen und zeichnerischen Betätigungen der Patientinnen und Patienten, zudem dürfen diese vor der Kamera offen ihre Wahrnehmungen schildern und widerlegen spielerisch die Vorteile gegenüber oft als „verrückt“ Ausgegrenzten.

Goldener Bär für "Sur l'Adamant" von Nicolas Philibert (TS Production/Longride)
Goldener Bär für "Sur l'Adamant" von Nicolas Philibert (© TS Production/Longride)

Neben Philibert gingen auch weitere Preise der Jury an etablierte Filmschaffende. Philiberts Landsmann Philippe Garrel gewann für seinen Puppenspielerfamilien-Film „Le grand chariot“ den Regie-Preis, der Deutsche Christian Petzold den „Großen Preis der Jury“ für seine sommerliche Komödie „Roter Himmel“. Petzold krönte damit einen mit fünf Wettbewerbsbeiträgen zahlenmäßig stark besetzten deutschen Jahrgang. Dieser schlug sich bei den Preisen mehrfach nieder: Angela Schanelec wurde für das Drehbuch zu ihrer filmischen Ödipus-Variante „Music“ ausgezeichnet, zudem ging der Preis für die beste Nebenrolle an die Österreicherin Thea Ehre. Diese besticht in Christoph Hochhäuslers „Bis ans Ende der Nacht“ als Transfrau, die für einen Undercover-Einsatz mit einem Polizisten ein Paar mimt, wobei sich zwischen den beiden widersprüchliche Gefühle entwickeln.

Ähnliche Fragen spricht auch der spanische Beitrag „20.000 especies de abejas“ an, der die Suche eines achtjährigen Kindes nach seiner Identität behandelt – in derart komplexer Form, dass die junge Hauptdarstellerin Sofía Otero überraschend, aber hochverdient von der Jury mit dem Schauspieler-Preis geehrt wurde.

Als präzises Regiedebüt wäre „20,000 Species of Bees“ auch ein denkbarer Kandidat für den „Goldenen Bären“ gewesen, ebenso wie zwei weitere herausragende Werke, die immerhin nicht ganz leer ausgingen. Der Portugiese João Canijo setzt sich in „Mal viver“ (sowie in dem Komplementärstück „Viver mal“ aus der Encounters-Auswahl) die spannungsgeladene Gesellschaft in einem maroden Hotel mit bissigen Dialogen und intensivem Schauspiel in Szene und holte sich damit den „Preis der Jury“. Für „Disco Boy“ von Giacomo Abbruzzese, einen der bildstärksten Filme in der Wettbewerbsauswahl, gab es einen Preis für die Kamerafrau Hélène Louvart, die unter anderem sehr effektvoll Wärmebildkameras einsetzt, um die Reise eines belarussischen Fremdenlegionärs ins Herz der Finsternis atmosphärisch ins Bild zu setzen.

Die Kamerafrau Helene Louvart wurde für "Disco Boy" ausgezeichnet (Film Grand Huit)
Die Kamerafrau Helene Louvart wurde für ihr Arbeit an "Disco Boy" ausgezeichnet (© Film Grand Huit)


Die Preise der 73. Berlinale im Überblick


Goldener Bär

Sur l’Adamant“ von Nicolas Philibert


Großer Preis der Jury

Roter Himmel“ von Christian Petzold


Jury-Preis

Mal Viver“ von João Canijo


Beste Regie

Philippe Garrel für „The Plough“


Beste Leistung in einer Hauptrolle

Sofia Otero in „20.000 especies de abejas“


Beste Leistung in einer Nebenrolle

Thea Ehre in „Bis ans Ende der Nacht“


Bestes Drehbuch

Angela Schanelec für „Music“


Preis für eine außergewöhnliche künstlerische Leistung

Hélene Louvart für die Kamera in „Disco Boy“


Goldener Bär für das Lebenswerk

Steven Spielberg


Mitglieder der Internationalen Jury waren Kristen Stewart (Präsidentin), Golshifteh Farahani, Valeska Grisebach, Radu Jude, Francine Maisler, Carla Simón, Johnnie To


Bester Film Encounter

Here“ von Bas Devos


Spezialpreis der Jury (ex aequo)

Orlando, My Political Biography“ von Paul B. Preciado

The Echo“ von Tatiana Huezo


Beste Regie Encounters

Tatiana Huezo in „The Echo“


Bester Dokumentarfilm

The Echo“ von Tatiana Huezo


Bester Film Generation 14 plus

Adolfo“ von Sofia Auza


Bester Film Kplus

Sweet As“ von Jub Clerc


Preise der Ökumenischen Jury

Tótem“ von Lila Avilés

Sur l’Adamant“ von Nicolas Philibert

Sages-femmes“ von Léa Fehner

Jaii keh Khoda Nist“ von Mehran Tamadon


Fipresci-Preise

The Survival of Kindness“ von Rolf de Heer

Here“ von Bas Devos

The Quiet Migration“ von Malene Choi

Between Revolutions“ von Vlad Petri


Heiner-Carow-Preis

Knochen und Namen“ von Fabian Stumm


Caligari-Preis

De Facto“ von Selma Doborac


Gilde-Fimpreis

20.000 Species of Bees“ von Estibaliz Urresoloa Sologuren

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