Der französische Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“ von Nicolas Philibert hat bei der Berlinale 2023 den „Goldenen Bären“ gewonnen. Mit Christian Petzolds „Roter Himmel“ gewann der überzeugendste von fünf deutschen Wettbewerbsbeiträgen den „Großen Preis der Jury“; zudem gingen weitere Auszeichnungen an die Schauspielerin Thea Ehre in „Bis ans Ende der Nacht“ und an „Music“ von Angela Schanelec.
In manchen Berlinale-Jahrgängen gibt es einen alles überragenden Favoriten, an dem die Jury schlicht nicht vorbeikommt; in anderen Jahren drängen sich verschiedene Beiträge gleichermaßen auf. 2023 hingegen präsentierte sich der Wettbewerb bis zum Schluss in solider, aber selten hervorstechender Form, sodass die Jury-Entscheidung eine echte Überraschung war. Mit dem Dokumentarfilm „Sur l’Adamant“ von Nicolas Philibert ging der „Goldene Bär“ an eine Arbeit, die vor allem durch ihre unerwarteten Einblicke in die Kreativität von Menschen mit psychischen Problemen auffällt.
Der französische Filmemacher Nicolas Philibert erweist sich darin einmal mehr als sensibler und gelassener Beobachter, der sich in diesem Fall auf ein Hausboot auf der Seine begibt, das seit 2010 als Tagesklinik genutzt wird. Der Film zeigt die musikalischen, dichterischen und zeichnerischen Betätigungen der Patientinnen und Patienten, zudem dürfen diese vor der Kamera offen ihre Wahrnehmungen schildern und widerlegen spielerisch die Vorteile gegenüber oft als „verrückt“ Ausgegrenzten.
Neben Philibert gingen auch weitere Preise der Jury an etablierte Filmschaffende. Philiberts Landsmann Philippe Garrel gewann für seinen Puppenspielerfamilien-Film „Le grand chariot“ den Regie-Preis, der Deutsche Christian Petzold den „Großen Preis der Jury“ für seine sommerliche Komödie „Roter Himmel“. Petzold krönte damit einen mit fünf Wettbewerbsbeiträgen zahlenmäßig stark besetzten deutschen Jahrgang. Dieser schlug sich bei den Preisen mehrfach nieder: Angela Schanelec wurde für das Drehbuch zu ihrer filmischen Ödipus-Variante „Music“ ausgezeichnet, zudem ging der Preis für die beste Nebenrolle an die Österreicherin Thea Ehre. Diese besticht in Christoph Hochhäuslers „Bis ans Ende der Nacht“ als Transfrau, die für einen Undercover-Einsatz mit einem Polizisten ein Paar mimt, wobei sich zwischen den beiden widersprüchliche Gefühle entwickeln.
Ähnliche Fragen spricht auch der spanische Beitrag „20.000 especies de abejas“ an, der die Suche eines achtjährigen Kindes nach seiner Identität behandelt – in derart komplexer Form, dass die junge Hauptdarstellerin Sofía Otero überraschend, aber hochverdient von der Jury mit dem Schauspieler-Preis geehrt wurde.
Als präzises Regiedebüt wäre „20,000 Species of Bees“ auch ein denkbarer Kandidat für den „Goldenen Bären“ gewesen, ebenso wie zwei weitere herausragende Werke, die immerhin nicht ganz leer ausgingen. Der Portugiese João Canijo setzt sich in „Mal viver“ (sowie in dem Komplementärstück „Viver mal“ aus der Encounters-Auswahl) die spannungsgeladene Gesellschaft in einem maroden Hotel mit bissigen Dialogen und intensivem Schauspiel in Szene und holte sich damit den „Preis der Jury“. Für „Disco Boy“ von Giacomo Abbruzzese, einen der bildstärksten Filme in der Wettbewerbsauswahl, gab es einen Preis für die Kamerafrau Hélène Louvart, die unter anderem sehr effektvoll Wärmebildkameras einsetzt, um die Reise eines belarussischen Fremdenlegionärs ins Herz der Finsternis atmosphärisch ins Bild zu setzen.
Die Preise der 73. Berlinale im Überblick
Goldener Bär
„Sur l’Adamant“ von Nicolas Philibert
Großer Preis der Jury
„Roter Himmel“ von Christian Petzold
Jury-Preis
„Mal Viver“ von João Canijo
Beste Regie
Philippe Garrel für „The Plough“
Beste Leistung in einer Hauptrolle
Sofia Otero in „20.000 especies de abejas“
Beste Leistung in einer Nebenrolle
Thea Ehre in „Bis ans Ende der Nacht“
Bestes Drehbuch
Angela Schanelec für „Music“
Preis für eine außergewöhnliche künstlerische Leistung
Hélene Louvart für die Kamera in „Disco Boy“
Goldener Bär für das Lebenswerk
Mitglieder der Internationalen Jury waren Kristen Stewart (Präsidentin), Golshifteh Farahani, Valeska Grisebach, Radu Jude, Francine Maisler, Carla Simón, Johnnie To
Bester Film Encounter
„Here“ von Bas Devos
Spezialpreis der Jury (ex aequo)
„Orlando, My Political Biography“ von Paul B. Preciado
„The Echo“ von Tatiana Huezo
Beste Regie Encounters
Tatiana Huezo in „The Echo“
Bester Dokumentarfilm
„The Echo“ von Tatiana Huezo
Bester Film Generation 14 plus
„Adolfo“ von Sofia Auza
Bester Film Kplus
„Sweet As“ von Jub Clerc
Preise der Ökumenischen Jury
„Tótem“ von Lila Avilés
„Sur l’Adamant“ von Nicolas Philibert
„Sages-femmes“ von Léa Fehner
„Jaii keh Khoda Nist“ von Mehran Tamadon
Fipresci-Preise
„The Survival of Kindness“ von Rolf de Heer
„Here“ von Bas Devos
„The Quiet Migration“ von Malene Choi
„Between Revolutions“ von Vlad Petri
Heiner-Carow-Preis
„Knochen und Namen“ von Fabian Stumm
Caligari-Preis
„De Facto“ von Selma Doborac
Gilde-Fimpreis
„20.000 Species of Bees“ von Estibaliz Urresoloa Sologuren