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Wirrwarr & Wohlklang - Ryuichi Sakamoto

Ein Nachruf auf den japanischen Komponisten Ryuichi Sakamoto (17.1.1952-28.3.2023)

Veröffentlicht am
07. Mai 2023
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Der Japaner Ryuichi Sakamoto (17.1.1952-28.3.2023) verband als Komponist die Musiktraditionen seines Kulturkreises mit westlichen Einflüssen, Klassik mit Jazz, eindringliche Melodik mit sperriger Atonalität. Unter seinen Werken finden sich viele Filmmusiken, vom ikonischen Thema zu „Merry Christmas, Mr. Lawrence“ und dem „Oscar“-gekrönten Soundtrack zu „Der letzte Kaiser“ bis zu feinen Kooperationen mit Pedro Almodóvar und Takashi Miike. Ein Nachruf auf einen begnadeten Tonkünstler.


Er machte es seinen Zuhörern nicht leicht. Wunderbare, wehmütige Melodien fielen Ryuichi Sakamoto immer ein. Meist dergestalt, als würden sie jenem Exotismus folgen, den man in Europa mit Japan verbindet. Doch immer dann, wenn man sich in die lyrischen Exotismen und den wohlig-fremden Klang fallen lassen möchte, bricht dieser auseinander. So als habe der Komponist kurz gegen die Instrumente getreten und die Musiker ermahnt, alle umherpurzelnden Noten dennoch in Musik zu verwandeln. Eine Vorstellung, die man sich wunderbar in einem der fantastischen Disney-Kurztrickfilme visualisiert vorstellen könnte, die aber auch im eigenen Kopfkino passiert, wenn man sich beispielsweise Sakamotos „El Mar Mediterrani“ (auf der CD „Cinemage“) anhört. Es ist ein ganz eigentümliches, aber auch exemplarisches Stück, das für die klassische Seite des Komponisten Ryuichi Sakamoto steht.

Es spricht für Sakamotos polyglottes Musikverständnis, dass ausgerechnet der aus Tokio stammende Künstler beauftragt wurde, für die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele 1992 in Barcelona eines der zentralen musikalischen Stücke zu komponieren. Wie kaum ein anderer versteht er Sakamoto, die für einen solchen Anlass notwendige pathetische Größe gleichzeitig dekonstruktiv zu hintertreiben. So, als würden die Noten in einem altehrwürdigen Stück plötzlich ein Eigenleben entwickeln, um nach einer Weile wildromantisch umherzutanzen und den Wohlklang in eine repetitive Kakophonie zu verwandeln, die man landläufig als „Neue Musik“ bezeichnet.

Der Komponist im Porträt „Ryuichi Sakamoto: Coda“ von 2017 (© Salzgeber)
Der Komponist im Porträt „Ryuichi Sakamoto: Coda“ von 2017 (© Salzgeber)

Melodiös und nervenaufreibend „modern“

Sakamotos Klassik ist gleichsam wunderbar melodiös und nervenaufreibend „modern“. So etwas mag den Verantwortlichen der Olympischen Spiele in Barcelona durchaus vorgeschwebt haben, um alte Verkrustungen aufzubrechen. Und so beginnen die 17 Minuten von „El Mar Mediterrani“ ganz dem Klischee entsprechend zivil und empathisch, nur um dann in ein Klangwirrwarr zu münden, das den Modernisten der 1920er-Jahre um Edgar Varèse und George Antheil sehr gefallen hätte. Chaos? Nicht ganz! Denn Sakamoto schafft es immer wieder, seine Noten einzufangen und zu einem versöhnlichen Abschluss in Wohlklang zu bändigen.

Bei allen Japonismen, die seinen Kompositionen innewohnen, war er doch ein Wanderer zwischen den (östlichen und westlichen) Welten, im Jazz ebenso zu Hause wie in der Musik seines Kulturkreises, in der er an der Tokioter Kunsthochschule in den 1970er-Jahren graduierte. Er war mit Avantgarde-Popikonen wie David Byrne oder Towa Tei ebenso verbandelt wie mit den lyrischen Petitessen eines Claude Debussy, den er sehr verehrte.

Mit Byrne gelang ihm 1987 dann auch das Meisterstück seiner filmmusikalischen Karriere. Zumindest, wenn es nach der „Oscar“-Academy geht, die ihn für „Der letzte Kaiser“ mit seinem einzigen „Oscar“ bedachte. Bezeichnend ist auch hier, dass der aus Schottland stammende Byrne mit seinen Percussion-Arrangements viel mehr in der Tradition der spröden chinesischen Hofmusik komponierte als Sakamoto, dessen leichtes und wehmütiges Hauptthema mehr nach italienischer Oper à la Puccini klingt.

Nachwirkender und filmmusikalisch bedeutender sind andere Musiken von Sakamoto. Etwa „Merry Christmas, Mr. Lawrence“, dessen von japanischen Klischeeakkorden durchzogenes, sogar von „Japan“-Frontman David Sylvian als Popsong vertontes Titelthema inzwischen genauso ikonisch ist wie David Bowies Auftritt als britischer Offizier in japanischer Kriegsgefangenschaft.

In „Merry Christmas, Mr. Lawrence“ übernahm Sakamoto neben der Musik auch die zweite Hauptrolle neben David Bowie (© IMAGO / Allstar)
In „Merry Christmas, Mr. Lawrence“ übernahm Sakamoto neben der Musik auch die zweite Hauptrolle neben David Bowie (© IMAGO / Allstar)

Die 1990er-Jahre als fruchtbarste Zeit

Vom Computer bis zum Konzertflügel, von der E-Gitarre bis zur Sitar, vom brachialen Happening bis zum kammermusikalischen Ohrenschmaus: Als Chamäleon der zeitgenössischen Musikszene waren die 1990er-Jahre Sakamotos produktivste und fruchtbarste Zeit. Von (nicht gewürdigter) „Oscar-Orchestermusik“ wie zu Bertoluccis Melodram „Himmel über der Wüste“ über die wehmütigen Schmachtfetzen in Almodóvars „High Heels“ oder die wild-romantische, mit opernhaften Etüden versehene Synthesizer-Thrillermusik der Miniserie „Wild Palms“ bis hin zu seinem kompositorischen Meisterstück „Little Buddha“.

„Little Buddha“, seine dritte Zusammenarbeit mit Bernardo Bertolucci, löst mit dem Quasi-Adagio, das sich elegisch breit und suggestiv über acht Minuten und den Abspann des Films ausbreitet, im Kopfkino all das ein, was der Monumentalfilm über zweieinhalb Stunden zuvor nicht zu leisten vermochte: Demut, Gänsehaut und Rührung, trotz Schwarzblende und Schlusscredits.

In seinen wenigen Werken aus den 2000er-Jahren sind es die ruhigen, mitunter spröden kleinen Melodien, die umso mehr nachhallen. Etwa der minutenlange Vorspann aus „Hara-Kiri – Tod eines Samurai“, in dem sich die Kamera auf eine schwebend-langsame Reise durch die herrschaftlichen Gemächer eines Fürsten im 17. Jahrhundert begibt, um schließlich vor der Rüstung eines Samurai zu enden; schon diese Musik macht klar, dass es Takashi Miike mit dem Remake von Masaki Kobayashis „Harakiri“ ernst ist. Die Tragödie um einen Samurai, der den erzwungenen rituellen Selbstmord eines Verwandten rächt, besticht durch seine reduzierte Bildsprache und kunstvollen Dialoge. Gepaart mit der streng reduzierten, aber emotional aufwühlenden Filmmusik von Sakamoto entwirft die atemberaubende Kamera ein bezaubernd-schönes und dennoch morbides Tableau, das sich als Abgesang an eine nur scheinbar makellose Kultur entpuppt.

Sakamotos filmmusikalisches Meisterstück: „Little Buddha“ (© IMAGO / United Archives)
Sakamotos filmmusikalisches Meisterstück: „Little Buddha“ (© IMAGO / United Archives)

Wie eine Abschiedsmusik: „Minamata“

In den letzten Jahren wurde es stiller um den (Film-)Musiker, der mit Krebserkrankungen kämpfte und sich damit in popkulturellen Konzeptalben auseinandersetzte (zuletzt mit seinem wenige Wochen vor seinem Tod erschienenen Album „12“).

In Erinnerung bleibt Ryuichi Sakamoto auch mit einem Film, der bei der Berlinale 2020 zu sehen war (sein Score ist erhältlich). „Minamata“ ist ein biografischer Film über den Fotografen W. Eugene Smith, der in den 1950er-Jahren einen Umweltskandal in der japanischen Stadt Minamata anprangern half. Sakamotos Klavier-Intro erinnert ein wenig an „Little Buddha“, aber nur in wenigen Akkorden und in der melancholischen und erhabenen Grundstruktur. Allerdings „Minamata“ ist im Kern investigatives Spannungskino und daher schrillen schon mal die Streicher oder raunen die Synthesizer. Das Klavier ist eher dem Zwischenmenschlichen vorbehalten.

Doch Sakamoto präsentiert selbst in den spannungserzeugenden Segmenten keine Musik von der Stange. Auf suggestive Art fesselnd, verbindet er elektronisches Flackern mit der Exotik eines fast schon menschlichen Summtons, bis sich elektronische Streicher im Crescendo bahnbrechen. So etwas gibt es eben nur bei Ryuichi Sakamoto! Das Piano, dessen Motiv den Film bolerohaft bestimmt, ist eine tragisch-schöne Abschiedsmusik. Klavier gespielt, geseufzt, geweint.

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