© Kurzfilmtage Oberhausen ("The Grannies")

Der perfekte Wind oder die Kunst des Fallens

Mittwoch, 10.05.2023 12:49

Die Kurzfilmtage Oberhausen präsentieren einen umfangreichen Überblick über „Machinima“-Filme, in denen Videospiele mit subversiver Fantasie und eigenwilliger Artifizialität weitergesponnen werden

Diskussion

Das „Machinima“-Genre, in dem es um Filme geht, die innerhalb von Videospielen gedreht werden, hat sich seit seinen Anfängen in den späten 1990er-Jahren mächtig entwickelt. Die Kurzfilmtage in Oberhausen präsentieren jetzt eine Auswahl jüngster Beispiele, die das Spezifische dieser Kunst eindringlich vor Augen führen: alles stets nur neu zu (re-)generieren.


Eine Kunst wird erst dadurch zu einer, indem sie eine eigene Geschichte erhält. Oder, wie Jean-Luc Godard es in seinem Filmvermächtnis „Bildbuch“ formuliert, wenn ein Zeitalter in ein anderes übergeht, die alten Produktionsmittel damit nutzlos und zu Künsten werden, weil sie das einzige sind, was von der vergangenen Epoche noch bleibt.

So gesehen erlaubt der Programmschwerpunkt „Against Gravity. The Art of Machinima“ der 69. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen (26. April – 1. Mai 2023) einen Blick in die Zukunft, in der die Maschinen der Gegenwart, Computerspiele und Künstliche Intelligenzen, nur noch in Gestalt von Kunstformen weiterexistieren.


Maschine + Cinema + Animation

Natürlich hat diese Zukunft längst begonnen, wenn man bedenkt, dass „Machinima“, dieses hybride Mediengenre, in dessen Namen sich die Maschine mit dem Cinema und der Animation verbindet, längst eine Geschichte hat, die bis in die späten 1990er-Jahre zurückreicht. Machinima bezeichnet Filme, die in Videospielen gedreht werden, oder auch die „Game Engines“ selbst, also die Maschinen, in denen diese Spiele und Welten entstehen.

Die Anfänge des Genres liegen im Demo-Replay, also in der Aufzeichnung von Spielsequenzen in Spielen. Bald kamen Videofunktionen hinzu, die Aufnahmen mit einer virtuellen Kamera in Videospielwelten erlaubten. Filme und Videospiele befruchten sich zwar schon lange gegenseitig; es gibt nach Filmen entstandene Spiele, Filme und Filmsequenzen in Spielen, Filme, welche der Logik von Spielen folgen, und Filme und Serien, die mit Hilfe von Game Engines produziert wurden

Die in Oberhausen gezeigten Filme erlauben jedoch eine Perspektive darauf, was das Spezifische an dieser Kunst von Machinima sein könnte, die sich vom Kino längst emanzipiert hat.

"Hardly Working" (Kurzfilmtage Oberhausen)
"Hardly Working" (Kurzfilmtage Oberhausen)

In Godards „Histoire(s) du cinéma“ vollzieht sich die Vollendung des Kinos zur Kunstform mit eigener Geschichte, indem das Kino mit seinen eigenen Mitteln (Filmausschnitten) über sich selbst reflektiert. Für die Domäne des Videospiels leistete Harun Farocki Ähnliches, dessen „Parallel 1“ (2012) im Oberhausener Programm nicht fehlen darf. Qua Split-Screen und Off-Kommentar erforscht Farocki eine Geschichte der Formen der Videospielgrafik. Die Repräsentation von Bäumen oder Feuern, die früher nur anhand von Kacheln gezeigt wurden („so wie die Ägypter im Profil gemalt haben“) steht im größeren Rahmen einer Menschheitsgeschichte der Künste und Bildformen. Dabei verweist Farocki anhand des Windes darauf, was diese Animationen so besonders macht: Es gibt hier nur den einen, künstlich animierten Wind – nicht den realen oder durch Windmaschinen erzeugten, wie im Kino. Dieser eine Wind ist, wie man hinzufügen muss, die Abwesenheit jedes singulären Windes, also etwa des Windes bei Straub/Huillet, Victor Sjöström, John Ford oder von Rita Azevedo Gomes. Im Videospiel gibt es keine Winde, die geschaffen wurden, als Nachbildungen der Realität und Erfindungen der Wirklichkeit. Mit Farocki verlässt das Videospiel den Bereich der Mimese. Das Game ist eine selbständige, radikal alternative Neuschöpfung, mit dem einen einzigen Wind, dem perfekten.


Ohne Anfang und ohne Ende

Dementsprechend erhält Machinima einen eigenen Platz in der Geschichte der Spezialeffekte, der synthetischen Bilder und der Animation, die in der Filmgeschichte immer noch den Sinn haben, eine real aufgenommene filmische Realität zu verstärken (etwa in den ersten „Star Wars“-Filmen oder in „Jurassic Park“), oder, in märchenhafter Form, am Computer nachzubilden oder zu sublimieren (Ang Lee, Zack Snyder, James Cameron). Noch die schönsten Beispiele des modernen Animationsfilms folgen dem Anthropomorphismus (vor allem bei Pixar: „Oben“, „Wall-E“, „Cars“) oder reinszenieren die Gegebenheiten der Elemente, der Materie, des Staubes („Rango).

Die Hyperrealität von Computerspielen hat sich hingegen noch dort, wo sie der realen Welt perfekt ähnelt, mit ihrer Artifizialität versöhnt, weil es in ihr keine endliche Zeit mehr gibt, die Anfang und Ende kennt, wie beim Film.

Auf Erkundungstour durch diese zeitlose Hyperrealität begibt sich das Künstler:innen-Kollektiv Total Refusal aus Österreich, das in der Wahl seiner Mittel in der Nachfolge Farockis steht: (Off-)Stimme und Bild werden erkenntnisorientiert genutzt, um die endlosen „open worlds“ von Spielen wie „Grand Theft Auto V“ zu durchqueren und zu analysieren. Das Erfolgsspiel des Entwicklerstudios Rock Star Games präsentiert eine quasi perfekte Nachbildung von Los Angeles, das im Spiel „Los Santos“ heißt und – wie L.A. – zu einem der präferierten Drehorte für Machinima-Filme geworden ist.

"Everyday Daylight" (Kurzfilmtage Oberhausen)
"Everyday Daylight" (Kurzfilmtage Oberhausen)

In ihrer filmischen Performance „Everyday Daylight“ (2022), welche die Programmserie in Oberhausen eröffnet, laden die Avatare der Medienguerilla-Aktivist:innen von „Total Refusal“ zu einer Tour durch die Stadt ein, die von Chaos und Gewalt bestimmt wird, aber auch zu einem hyperdetaillierten Kosmos geworden ist, mit Gebäuden und Tankstellen bis hin zu den Obdachlosen, wie sie Alan Butler in seinem GTA-5-Film „Le moment fabrique“ (2017) dokumentiert.


Die ewige Präsenz des (Re-)Generierten

Im virtuellen Los Santos erforschen die Macher:innen von Machinima-Filmen ein Niemandsland zwischen exakter Kopie und hyperrealer Autonomie, bevölkert von Avataren realer Player und den Hintergrundfiguren, den „Non-Playable Characters“, kurz NPCs. „We are such stuff as dreams are made on“, so der Titel des ironischen Kurzfilms von Sam Crane (2021), dessen Avatar beim Versuch, anderen Spieler:innen Shakespeares „Tempest“ vorzutragen, mehr als einmal erschossen wird und so die Shakespearesche „baseless fabric of this vision“ zu erkennen gibt, die tausend Tode sterben und immer wieder auferstehen kann. Alles hier ist immer neu, wird in jedem Moment neu erschaffen und zerfällt immer wieder neu.

Wenn Machinima eine Nähe zu anderen Künsten unterhält, dann weniger zum Bewegtbild des Kinos als zum Einzelbild der Fotografie, zum einzelnen Moment, der, von seiner Flüchtigkeit befreit, zur ewigen Präsenz geworden ist, zum regenerativen Kreislauf. Nichts wird geschaffen und als Geschaffenes festgehalten in dieser Welt. Alles wird stets nur (re-)generiert.

"We are such stuff as dreams are made on" (Kurzfilmtage Oberhausen)
"We are such stuff as dreams are made on" (Kurzfilmtage Oberhausen)

Machinima-Filme zerfallen oft in zwei Teile. Auf der einen Seite das maschinelle Bild, bestimmt vom regenerativen Code; auf der anderen die menschlichen Stimmen der Spieler:innen, die durch die Bilder verstellt sind, hinter oder jenseits von ihnen bleiben. Die Bilder sind Maskierungen des Menschlichen, eine Absage an dessen Sphäre. Der Stimme bleibt oft wenig mehr zu tun, als den Tod oder das Ausscheiden ihrer Spielfigur mit einem Lachen zu quittieren, um die Unmöglichkeit zu unterstreichen, das Sterben als tragisches Ereignis zu erfahren. In dieser Ironisierung, dieser unüberbrückbaren Differenz, einer deprimierenden Isolation der lebendige Stimmen der Spieler:innen vor der Leblosigkeit des Avatars, besteht die Grenze der meisten Machinima-Filme.

Die stärksten Filme sind daher jene, die den Graben zwischen Mensch und Maschine überwinden und das Menschliche in den Bilden wiederfinden – in seinem Verlust, seiner Simulation, seiner Verpackung in den regenerativen Code. Der in Los Santos spielende „Marlowe Drive“ von Ekiem Barbier, Guilhem Causse und Quentin L’Helgoualc’h, angelehnt an den Mulholland Drive in Los Angeles und den gleichnamigen Film von David Lynch, zeigt am Ende den Angriff eines Hackers, der die Körper der Avatare in Flammen setzt und malträtiert – und „durch die Körper der Avatare die Seelen der Spieler quält“. So wird die Differenz zwischen digitalem Avatar und menschlicher Seele, Materie und Psyche, Spiel und Spieler aufgelöst.

"Marlowe Drive" (Kurzfilmtage Oberhausen"
"Marlowe Drive" (Kurzfilmtage Oberhausen"

Die (menschlichen) Träume und Alpträume, die Phantasmen und Dämonen entstehen hier aus dem – gehackten – Code, der Welt des Spiels. Doch diese Synthese ist umso dämonischer, da sie noch eine weitere Marter bereithält, in Form der Einführung einer erneuten Differenz: Wenn das Spiel auch reale Freuden zulässt (eine Party auf einem Boot, in einer Villa, die Einrichtung persönlicher Wohnungen, die Treffen mit anderen Spieler:innen/Avataren), oder eben reale Qualen, dann hinterlassen diese Momente in der nicht-realen Zeitlichkeit des Spiels doch nichts als eine tiefe Melancholie; jeder Moment kann, im Erleben, letztlich nur verpasst werden.


Wovon träumen „Non-Playable Characters“?

Eine andere fantastische Arbeit ist „Hardly Working“ des Kollektivs „Total Refusal“, in dem die Wild-West-Welt von „Red Dead Redemption 2“ (ebenfalls von Rock Star Games) erkundet wird. Die Off-Stimme spricht hier nicht für sich selbst oder die Avatare, sondern – dem Erkenntnis- und Reflexionsanspruch Farockis folgend – für jene, die keine Stimme haben: für die im Film beobachteten NPCs, die Hintergrundstatisten des Spiels, gefangen in ewig andauernden, sinn- und ergebnislosen Tätigkeiten. Wenn sie nicht arbeiten, verharren sie im Nichts, reglos vor sich hinstarrend. Doch durch die empathische Beobachtung und den genauen Kommentar kommt es zum unendlich verzögerten Einschlag eines belebenden Blitzes in diese seelenlosen, nur qua Rechenleistung existierenden Figuren. Der Blick der Wäscherin schweift traumverloren in die Ferne: Wovon träumen „Non-Playable Characters“? Und wenn uns der Blick des Zimmermannes trifft, als er im Regen am Dock seine Arbeit unterbricht, scheint für einen Sekundenbruchteil die Menschlichkeit dieser Figur auf, als habe er diese vor lauter Arbeit nur vorübergehend vergessen – bevor das Bewusstsein erneut ins Vergessen abgleitet, in die abgrundtiefe Leere seiner (Nicht-)Existenz.

Das faszinierend Reale dieser Spielwelten liegt in dieser Leere, kaschiert von den Grafiken der Städte und Welten, die wie Kulissen über ihr liegen, oder eher wie hauchdünne, immer wieder zerbrechende Kacheln. Dann entstehen die Fehler, die sogenannten „Glitches“, und die Figuren, Avatare oder NPCs rutschen ins Nichts. In Jacky Connollys „Descent into Hell“ (GTA 5, 2022) stürzt die Hauptfigur szenenweise durch Himmel oder Wasser, während in Marie Foulstons „The Grannies“ (2019) die Spielerinnen in der Welt von „Red Dead Online“ hinter einem Felsen eine Zone entdecken, in der ein Fall in den Tod ewig dauert, während sich die Farben des Nichts mit der Tageszeit verändern.

Zur eigenständigen, sich selbst reflektierenden Kunst wird Machinima durch diese Kunst des Fallens, welche die Leere vermisst, die Aufhebung der physischen Gravitation und die Nichterfahrbarkeit des Todes ins Unendliche erweitert, um uns in der Schönheit einer leblosen Welt gefangen zu halten, die keinen Anfang und kein Ende kennt.

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