© Maria Lassnig Stiftung (Maria Lassnig in „Kopf“)

Berlinale 2024 - Maria Lassnig

Der biografische Film „Mit einem Tiger schlafen“ (2024) von Anja Salomonowitz und ein Kurzfilmprogramm ermöglichen bei der Berlinale eine Begegnung mit der österreichischen Avantgardekünstlerin Maria Lassnig

Veröffentlicht am
19. März 2024
Diskussion

Die Berlinale beschert eine seltene Möglichkeit, der österreichischen Avantgardekünstlerin Maria Lassnig (1919-2014) zu begegnen. Neben dem biografischen Film „Mit einem Tiger schlafen“ von Anja Salomonowitz gibt es ein Programm mit Kurzfilmen von Lassnig aus den 1970er-Jahren, die um die Sichtbarmachung von Körperempfindungen kreisen. In ihren obsessiven Selbstthematisierungen geht es damit immer um die Auflösung von Festschreibungen und die Freiheit, viele zu sein.


Für das Erzählen der eigenen Biografie sah sich die österreichische Avantgarde-Künstlerin Maria Lassnig (1919-2014) Zeit ihres Lebens selbst zuständig. 1992 entstand mit dem Film „Maria Lassnig Kantate“ (in Zusammenarbeit mit Hubert Sielecki) ein Biopic der anderen Art: eine tragikomische Rückschau auf „die längst vergangene schöne Zeit“ in 8 Minuten und 14 Strophen, gesungen im Stil eines Bänkelsängers und von einer Drehleier begleitet. Vor animierten Hintergründen passiert Lassnig in wechselnden Kostümen die wichtigen Stationen ihres Lebens, angefangen von der Kindheit in Kärnten und dem Erwachen als Künstlerin über den Besuch der Kunstakademie und die Zeit in Paris und New York bis hin zu ihrer Ernennung als Professorin. Den Verletzungen und dem Schmerz, die intensive, aber ambivalente Beziehung zur Mutter, die Schikanen durch Mitschüler und das Scheitern in der Liebe steht das Geschenk der Kunst gegenüber. „Sie macht den Geist erst hungrig und dann satt“. Lassnig blickte zu diesem Zeitpunkt auf 70 Lebensjahre zurück; an ein Ende wollte sie noch lange nicht denken: „Es ist die Kunst, ja, ja, die macht mich immer jünger.“ Sie lebte und arbeitete dann weitere 27 Jahre.


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Zum Selbstporträt hatte Lassnig ein obsessives Verhältnis; Material für eine Künstlerinnenbiografie findet sich in Hülle und Fülle. In Malereien, Zeichnungen und Filmen entwarf sie sich in den verschiedensten Seinszuständen. Sie stellte sich als Prophet dar, als Auto, Zitrone, Blondine, Knödel oder mit Hase, Tiger, Pinsel, Maulkorb, Kochtopf und Sprechblase. „Oh, why did I make this picture?“, wundert sie sich im schläfrigen Singsang in „Selfportrait“ (1971) – „To veil or to reveal, to reveal my heart, the feeling or not become a wood head, a machine, a camera?“ Im Laufe des animierten Films durchläuft ihr gezeichnetes Gesicht verschiedene Stadien: leere Fläche, Greta Garbo, Schubladenkommode, Beatmungsgerät, Bette Davis, Holzbrett, Käse, niesende Freiheitsstatue, Ananas und Filmkamera. „Encounter“ (1970) zeigt Begegnungen als Unfälle, als Kommunikationsverfehlungen. Ein durchs Bild robbender fuchsiafarbener „Blob“ mit dem Profil der Künstlerin läuft einem blauen Mensch-Ding-Wesen mit spitzen Stacheln über den Weg. Nach einem kurzen Moment der Panik geht er über sein Gegenüber hinweg und lässt es als unbelebte Materie hinter sich.


Kurzfilme & eine biografische Annäherung

Lassnigs filmisches Werk, das mit Ausnahme der „Kantate“ in den 1970er-Jahren in New York entstand, ist keineswegs homogen; Genres, Erzählansätze und Tonlagen wechseln ebenso wie Techniken. Sie arbeitete mit Doppelbelichtungen und Legetricks, Zeichnung, Malerei und Cut-Outs und filmte in studiohaften Settings wie in der freien Natur. Neben den Animationsfilmen – Lassnig zog den englischen Begriff vor, „weil ich lieber mit ‚Belebung’ oder ‚Beseelung’ zu tun habe als mit Kniffen und Tricks“, finden sich experimentelle dokumentarische Arbeiten.

"Maria Lassnig Kantate" (sixpack film)
Aus "Maria Lassnig Kantate" (© sixpack film)

Eine Auswahl von Lassnigs Kurzfilmen, darunter auch „Encounter“, „Selfportrait“ und „Maria Lassnig Kantate“, lassen sich derzeit im Forum Special bei der Berlinale (wieder)sehen oder auch erstmals entdecken. Unter dem Titel „Relations & Resistance“ widmet sich das Programm Spielformen des Widerstands. Die 2014 verstorbene österreichische Avantgardekünstlerin ist darin prominent vertreten. Ihr ist auch der Film „Mit einem Tiger schlafen“ (2024) von Anja Salomonowitz gewidmet, in dem sie das etwas kauzige, körperpräsente Zentrum bildet. Salomonowitz hat sich mit hybriden Filmen einen Namen gemacht, die dokumentarisches Material in Szene setzen und verfremden, wofür der Begriff „Performing Documentary“ erfunden wurde. Schon in „Dieser Film ist ein Geschenk“ (2019) über den Assemblage-Künstler Daniel Spoerri ließ Salomonowitz ihren Sohn Oskar immer wieder Erzählungen und Handlungen des Künstlers nachspielen. Spoerris Idee vom Dasein als einem ständigen Kreislauf fand in Spiel und Rollentausch eine schöne Umsetzung.

In „Mit einem Tiger schlafen“, so der Titel eines Gemäldes von Lassnig aus dem Jahr 1975, sind die Repräsentationsbrüche in eine konventionellere Form eingelassen. Auch wenn diverse Verfremdungseffekte zum Einsatz kommen – das Durchbrechen der vierten Wand, surreale, performative und dokumentarische Elemente –, folgt der Film zunächst einmal gewissen Gesetzmäßigkeiten des biografischen Genres: historische Settings, die Erzählung wichtiger Lebensstationen (obgleich non-linear und elliptisch), eine Schauspielerin (Birgit Minichmayr), die Maria Lassnig nicht nur verkörpert und zeigt, sondern auch spielt im Sinne von Einfühlung, Nachahmung, Repräsentation.

Dem Illusionismus werden jedoch Grenzen gesetzt. Minichmayr ahmt Haltungen, Gesten und Mimik von Lassnig nach und kärntnert auch ordentlich; sie spielt die Figur jedoch äußerlich unverändert in allen Altersgruppen. Sie ist das einsame, von der Mutter missachtete und zur Großmutter abgeschobene Kind, das schon früh zeichnet, die junge Künstlerin, die in der Nazi-Zeit an der Wiener Akademie Kunst studiert und nach dem Krieg dem um einige Jahre jüngeren Maler Arnulf Rainer begegnet, eine Expat, die mit ihren schwer klassifizierbaren Arbeiten auch in New York auf Unverständnis stößt, und die erfolgreiche Ausnahmekünstlerin, die Ausstellungen in bedeutenden Institutionen hat und auf dem Kunstmarkt gehypt wird. Minichmayr durchläuft alle Stadien – bis hin zur schon sichtbar gebrechlichen Künstlerin, die sich auf eine Krücke gestützt durchs Atelier bewegt und noch im Rollstuhl sitzend malt.


Das bewohnte Körpergehäuse

Lassnigs Interesse galt der Sichtbarmachung von Körperempfindungen, ein Prinzip, das sie „body awareness“ nannte; den Begriff „Körpergefühl“ mochte sie nicht, er klang ihr zu gefühlsselig. 1970 schrieb sie: „ich [suchte] nach einer realität, die mehr in meinem besitz wäre als die außenwelt, und fand als solche das von mir bewohnte körpergehäuse, die realste realität am deutlichsten vor“. Auch Salomonowitz denkt die Figur stark vom Körper aus. Gleich im ersten Bild ist die Rückenansicht der Künstlerin zu sehen, sie zieht ihre Schultern hoch, spannt sie zu kleinen Flügeln. Später liegt die Künstlerin einmal bei Nachbarn in der Badewanne; ihre eigene Wohnung in Paris ist ärmlich und hat kein warmes Wasser; die von Terpentin aufgeschürften Hände liegen auf dem Wannenrand. Als plötzlich ein Mädchen vor ihr steht und sie schweigend betrachtet, beginnt Lassnig über das Empfinden in ihrem „Körpergehäuse“ zu sprechen: „Du siehst mich von außen und ich spüre das. Aber ich bin auch innen. Ich bin außen und innen. Ich kann gesehen werden und bin in dem Gesehenen gleichzeitig. Aber es tut so weh! Was meinst du? Ist der Schmerz jetzt innen oder außen?“

Birgit Minichmayr in "Mit einem Tiger schlafen" (Berlinale 2024)
Birgit Minichmayr in "Mit einem Tiger schlafen" (© Berlinale 2024)

Anders als die meisten Künstler:innen-Porträts befasst sich „Mit einem Tiger schlafen“ ernsthaft mit der künstlerischen Praxis, wobei nicht der Malvorgang als solcher im Zentrum steht, sondern der Prozess, der diesem vorausgeht. Die Kunst ist hier nicht nur Hintergrundrauschen und Accessoire für eine Figur, die, so die gängige Pathoserzählung, laut und verzweifelt um Anerkennung und Sichtbarkeit kämpft. Passagen aus Interviews, in denen Lassnig über den Körper oder über ihren „Farbsinn“ spricht, sind in die Dialogzeilen eingewoben. Doch vor allem sieht man Lassnig im Atelier: Wie sie ein Stück Leinwand an die Wand nagelt, wie sie mit geschlossenen Augen auf einem Stuhl davorsitzt und sich an einen anderen Ort, ein anderes Gefühl versenkt, wie sie ihren Körper neben oder auf dem Bildträger liegend krümmt und den Mund zu einer Grimasse verzieht, um sich in Empfindungen hineinzufühlen, die sich auf den fertigen Bildern als deformierte Körper, Fratzen, Mutationen manifestieren.

Was Birgit Minichmayr dabei mit ihrem Körper anstellt, scheint weitgehend den Malereien abgeschaut und den wenigen Fotografien, in denen sich die Künstlerin im Studio vor oder vielmehr halb auf der Leinwand in Szene setzte. Minichmayrs Spiel ist also weniger das Reenactment eines verbrieften Malvorgangs als eine Körperperformance eigenen Rechts.


Das Atelier als Lebensraum

Das Atelier – in Kärnten, Paris, New York – ist der Lebensraum von Maria Lassnig. Sie zeichnet, malt und arbeitet an einem improvisierten Animationspult an ihren Filmen. Später, als sie Erfolg hat und mit Hans Werner Poschauko einen verlässlichen, nach außen vermittelnden Assistenten an ihrer Seite, empfängt sie dort grummelig Sammler und Museumsleute. Der Erfolg kommt viel zu spät; froh macht er sie nicht mehr.

„Mit einem Tiger schlafen“ ist auch ein Film mit klar feministischer Agenda, der erzählt, was es bedeutete, als Künstlerin in einer patriarchalen Kunstwelt zu existieren und ständig übertönt und übersehen zu werden. An der Seite von Arnulf Rainer bekommt sie die Repressionen und Ausschlüsse bitter zu spüren. Bei einem Termin mit einer Galeristin wird sie zur Übersetzerin des aufstrebenden Künstlers und Lebensgefährten degradiert; ihre eigenen Arbeiten werden kaum beachtet. „Das hat natürlich sehr in mein Herz gegriffen“, bekennt sie später einmal.

„Ich denke an eine Loslösung von der repräsentativen Form, und doch ist es mein Körper, den ich hier darstelle“, erklärt Lassnig einmal ihr Motiv. Auch Salomonowitz versucht sich an dieser Doppelung, wenn sie die Fiktion aufbricht und für die Wirklichkeit durchlässig macht. Einmal porträtiert die Fotografin Elfie Semotan die Film-Lassnig und teilt in einer anschließenden Interviewszene ihre Erinnerung an die echte Begegnung; ein anderes Mal kommt ein Mitarbeiter eines Auktionshauses zu Wort und berichtet von einem „historischen Verkauf“: 2021 brach ein Gemälde Lassnigs mit einer Summe von über einer Million den Auktionsrekord für ein zeitgenössisches österreichisches Kunstwerk.

Das Atelier als Lebensraum: "Mit einem Tiger schlafen" (Berlinale 2024)
Das Atelier als Lebensraum: "Mit einem Tiger schlafen" (© Berlinale 2024)

Diese Brüche oder Öffnungen ins Dokumentarische wirken etwas verloren; sie sind zu angerissen und beliebig, um sich zu einer autonomen Form zu verdichten. Ähnlich ergeht es Lassnigs Gemälden, die, als formatfüllende Abbildung auf eine weiße Fläche gesetzt, die Spielhandlung für einen jeweils kurzen, fast schon hastigen Moment unterbrechen. Sie stehen weniger für sich, als dass sie das eben Gesehene als biografische „Beweise“ bezeugen. Sichtbar Freude hat der Film dagegen, die am Expressionismus geschulte Farbigkeit der Bilder – Lassnig sprach von „Schmerz- und Qualfarben“, von „Nervenstrang- und Krebsangstfarben“ – in die Biopic-Welt hineinzutragen: von den Gemälden, die an den Wänden von Atelier und Ausstellungsraum leuchten über Farbtuben bis hin zu Lassnigs wild gemusterten Pullovern und Trainingsanzügen.


Der Eindeutigkeit entziehen

Am Ende legt der musikalisch etwas aufdringlich untermalte Film Lassnig allzu sehr auf die verschrullte Lonerin fest, die sich durchs Leben grantelt: Weil die Arbeiten schlecht gehängt sind und die Bilder, ihre „Kinder“, nun ein einsames Dasein in einem „Waisenhaus“ fristen müssen oder weil die Künstlerin Valie Export, mit der sie sich den österreichischen Pavillon bei der Venedig-Biennale teilen muss, alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Selbstironie, die ihren Arbeiten so eigen ist, geht dabei gelegentlich verloren, ebenso wie ihre Sozialität.

Tatsächlich gehörte Maria Lassnig in ihrer New Yorker Zeit neben Künstlerinnen wie Carolee Schneemann oder Martha Edelheit der Women/Artist/Filmmakers, Inc., an, einem Netzwerk, das sich für die Sichtbarkeit von Künstlerinnen einsetzte. Auch arbeitete sie fast zwanzig Jahre lang als Professorin an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien. Und von ihren Freundschaften und Begegnungen mit anderen Frauen zeugt nicht zuletzt ihre filmische Porträtserie „Soul Sisters“. Der Körperlandschaftsfilm „Iris“ (1971), der bei der Berlinale ebenfalls im Kurzfilmprogramm zu sehen ist, perspektiviert den nackten Körper der Freundin ständig neu, er wird zerlegt, verflüssigt und gespiegelt. Er ist uneindeutig, entzieht sich der Festschreibung und ist wie Lassnig selbst: viele.

(v.l.) Saladin Dellers, Birgit Minichmayr, Lukas Watzl in "Mit einem Tiger schlafen" (Berlinale 2024)
Saladin Dellers, Birgit Minichmayr, Lukas Watzl (v.l.) in "Mit einem Tiger schlafen" (© Berlinale 2024)

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