A Place Called Chiapas

Dokumentarfilm | Kanada 1998 | 90 Minuten

Regie: Nettie Wild

Dokumentarfilm über den Aufstand in der südwestmexikanischen Region Chiapas, der 1994 von der Befreiungsarmee recht erfolgreich begonnen wurde, dann jedoch unter dem Druck von Regierungsarmee, Polizei und Todesschwadronen zunehmend versandete. Die kanadische Filmemacherin, die sich acht Monate im Krisengebiet aufhielt, beschreibt in ihrem parteinehmenden Film nicht nur den Zustand einer Stagnation, sondern stellt internationale Zusammenhänge ebenso dar wie das Leiden der Zivilbevölkerung und den Widerstand der verbliebenen Rebellen, die auf eine Verbesserung der Situation ihrer Landsleute drängen; auch die engagierte Position der Kirche als Fürsprecherin der Unterdrückten kommt zur Sprache. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
A PLACE CALLED CHIAPAS
Produktionsland
Kanada
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Canada Wild Prod./Canadian Broadcasting
Regie
Nettie Wild
Buch
Nettie Wild · Manfred Becker
Kamera
Kirk Tougas · Nettie Wild
Musik
Joseph Pepe Danza · Salvador Ferreras · Celso Machado · Laurence Mollerup
Schnitt
Manfred Becker
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Am 1. Januar 1994 begann in der südwestmexikanischen Region Chiapas der Aufstand. Die zapatistische Befreiungsarmee, Guerillaverbände, die sich hauptsächlich aus „Indigenas“, den Nachkommen der Ureinwohner, zusammensetzten, eroberte im Handstreich fünf Städte und 500 Firmen und – noch wichtiger – sorgte für weltweite Schlagzeilen: Die „New York Times“ sprach von der ersten postmodernen Revolution, und der bis dahin fast unbekannte Landstrich am Pazifik rückte ins Zentrum der Weltöffentlichkeit. Heute ist die Revolution zum zermürbenden Stellungskrieg geworden. Die „Zapatistas“ haben sich in den Dschungel zurückgezogen, der von 30.000 mexikanischen Armeesoldaten umstellt ist. Die vom Staat versprochenen Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Indios versanden im Räderwerk der mexikanischen Bürokratie, Todesschwadronen vertreiben die Bevölkerung ganzer Dörfer und werden dabei von der mexikanischen Regierung gedeckt.

Die kanadische Regisseurin Nettie Wild hat acht Monate lang im Zapatistengebiet gefilmt. Dabei ist keiner jener typischen Revolutionsfilme entstanden, die exotische Revolten in die Schubladen allgemeingültiger Zusammenhänge stecken. Nettie Wild macht keinen Hehl aus ihrer Position als Filmemacherin: „Ich als Außenstehende blicke auf die Welt, die sie verändern müssen, um zu überleben.“ Ihre Dokumentation Chiapas ist ein eindringliches Dokument über die Suche nach den Zusammenhängen hinter der pittoresk-folkloristischen Oberfläche. „A Place Called Chiapas“ stellt die Ereignisse in einen nationalen und globalen Kontext, nimmt offensiv Stellung, verschweigt aber auch nicht die Widersprüche innerhalb der Bewegung. Dabei ist die Filmemacherin nicht der nordische Jäger auf der Suche nach der verlorenen Revolution, vielmehr lebt sie auf der anderen Seite der Medaille: Kanada ist gemeinsam mit den USA Partner Mexikos in der Freihandelszone, mit der die seit 70 Jahren Mexiko regierende PRI dem Land den Eintritt in die erste Welt bescheren will, mit allen dazugehörigen sozialen Einschnitten, die letztlich gewaltsame Revolten wie in Chiapas provozieren. Die Börsen in Montreal und New York sind direkt und indirekt von der Entwicklung im Süden Mexikos betroffen. „A Place Called Chiapas“ zeigt eine komplexe Wirklichkeit in einem zerrissenen Land, in dem die Macht der Regierungspartei langsam zerbröckelt und das auf eine lange Geschichte verratener Revolutionen zurückschaut. „Um Chiapas zu verstehen, muß man das Chaos der Macht in Mexiko verstehen“, sagt Bischof Samuel Ruíz Garcia.

Vor Jahrhunderten, erzählt der Film, diskutierten ein Priester und ein Theologe über die Ureinwohner. Der Theologe bestand darauf, daß die Eingeborenen keine Seele hätten und nur als Sklaven zu gebrauchen wären. Der Priester widersprach, derjenige, der mit dem Elend dieser Sklaven Geschäfte mache, werde der ewigen Verdammnis anheimfallen. Heute ist die Kirche, einst Vorreiter der gewaltsamen Kolonialisierung, in vielen Fällen zum Sprachrohr der „Indigenas“ geworden. Bischof Samuel Ruíz Garcia kämpft seit 30 Jahren um eine friedliche Lösung des Konfliktes: „Bei dem Aufstand der Zapatisten ging es nicht um die Machtübernahme. Die Gewalt war ein Signal, um gehört zu werden, jetzt können wirkliche Verhandlungen beginnen“, meint er optimistisch. Der Film zeigt aber auch die quälende Ergebnislosigkeit der Verhandlungen, die Ohnmacht des Bischofs und der Zapatisten. Die beeindruckendsten Szenen des Films handeln vom Schicksal der von Todesschwadronen vertriebenen Dorfbewohner im Norden der Region. Der Bischof muß die Dorfbewohner auf bessere Zeiten vertrösten, und die Kamera ist auch dabei, wenn die Einwohner vergeblich versuchen, in ihr Dorf zurückzukehren.

„A Place Called Chiapas“ ist ein facettenreiches Panorama über einen Stellungskrieg zwischen David und Goliath. Der Weg von einer Guerrilla-Armee zur Bürgerrechtsbewegung ist lang, Todesschwadronen und die mexikanische Polizei bedrohen die Sympathisanten der Zapatisten mit dem Leben. Derweil entfaltet das offizielle Mexiko einen gigantischen Militärapparat anläßlich des Unabhängigkeitstages. Auch die aus dem Rebellengebiet vertriebenen Großgrundbesitzer und die Aktivisten der Todesschwadronen kommen zu Wort und unterstreichen ihren Unwillen zu jeglicher Veränderung. Nettie Wild zeigt die Stagnation einer Revolution auf herkömmliche Weise. Ganz in der Tradition des klassischen Kinodokumentarfilms läßt der Kommentar den Zuschauer keinen Moment im Stich. Immer wieder kommt die Filmemacherin dabei auf die Widersprüche einer undurchschaubaren Situation zurück. Dafür steht besonders die Schlußszene, das nächtliche Interview mit dem legendären Subcomandante Marco: „Wie lange sind Sie in Chiapas?“, fragt er, den Blick in die Kamera gerichtet. – „Seit fünf Monaten.“ – „Ich bin 12 Jahre hier und habe es immer noch nicht genau verstanden, was hier passiert.“ „A Place Called Chiapas“ ist keine konventionelle Fernsehreportage, an deren Ende man genau weiß, was anderenorts passiert, sondern eine faszinierende filmische Bestandsaufnahme, die Fragen aufwirft und Interesse weckt.
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