Songs from the Second Floor

- | Schweden/Norwegen/Dänemark 2000 | 98 Minuten

Regie: Roy Andersson

Eine Welt im apokalyptischen Stau: Ein Möbelhändler, der seinen Laden angezündet hat, um die Versicherungssumme zu kassieren, streift durch die Nacht und versucht, durch den Verkauf von Kruzifixen sein Leben zu finanzieren. Derweil versinkt die Welt um ihn herum im Chaos. Ein atemberaubendes Arrangement in 46 Bildern, das den Stillstand des kapitalistischen Systems spür- und sichtbar macht und dabei die Hoffnung auf Erlösung mit dem symbolischen Verkauf spiritueller Werte konterkariert. Ein sowohl gedanklich als auch inszenatorisch überzeugender Film. - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
SANGER FRAN ANDRA VANINGEN
Produktionsland
Schweden/Norwegen/Dänemark
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Roy Andersson Filmprod./Danmarks Radio/Nordisk Film & TV-Fond/NRK/SVT Drama/Svenska Filminstitutet
Regie
Roy Andersson
Buch
Roy Andersson
Kamera
István Borbás · Jesper Klevenas · Robert Komarek
Musik
Benny Andersson
Schnitt
Roy Andersson
Darsteller
Lars Nordh (Karl) · Stefan Larsson (Stefan) · Peter Roth (Tomas) · Lucio Vucina (Magier) · Bengt C.W. Carlsson (Lennart)
Länge
98 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Externe Links
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Diskussion
Die Nacht der lebenden Toten – das wäre ebenfalls ein passender Titel für den neuen Film von Roy Andersson, Ausnahmeregisseur aus Schweden. 2000 in Cannes mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet, hat „Songs from the Second Floor" seitdem zahlreiche Festivalpreise ergattert. Pünktlich zur Jahrtausendwende beschwört der Film in einer assoziativen szenischen Collage den Untergang der verrotteten Wohlstandsgesellschaft in der so genannten ersten Welt herauf. Was passiert, ist so alltäglich wie absurd: Ein Firmenboss entlässt Mitarbeiter, ein Magier vertut sich und sägt beinahe einen Variétébesucher entzwei, ein Mann wird von Randalierern zusammengeschlagen, während Passanten zuschauen. Es geschieht noch viel mehr, und zusammengehalten wird alles durch Karl. Der hat gerade seinen Möbelladen angezündet, um die Versicherungssumme zu kassieren. Seine zwei Söhne hält er für Verlierer; einer fährt Taxi, der andere ist im Irrenhaus. Karl sucht sich eine neue Aufgabe und handelt mit Kruzifixen aus Plastik. Während seiner Reise durch die Nacht brechen die (Finanz-)Märkte ein, Direktoren drehen durch, die Stadt versinkt immer weiter in einen apokalyptischen Stau. Atemberaubend ist das Arrangement aus 46 Bildern, in Weitwinkel-Totalen fast immer mit statischer Kamera aufgenommen. Bleiche Gestalten, Zombies ähnlich, sprechen Sätze wie aus dem Absurden Theater und bewegen sich nur langsam durch pastellfarbige Szenen. Zu den riesigen Bildräumen, deren Fluchtpunkte mittels Perspektivmalerei und extremer Tiefenschärfe irgendwo im Unendlichen liegen, hat Andersson eher die Malerei als das Kino inspiriert. Ein Teil des Geschehens drückt sich häufig nahe am Bildrahmen herum – und ist doch immer das Kernstück seinen bitterbösen Phantasmen. Nur ein Beispiel: Ein soeben entlassener Mitarbeiter hängt sich verzweifelt an die Rockschöße des Vorgesetzten und wird richtig gehend aus dem Bild gezogen. Erst jetzt schließen sich leise die Flurtüren der Kollegen, die zuvor völlig unbeachtet blieben. Der preisgekrönte Werbefilmer Andersson, der fast nur mit Laiendarstellern arbeitet, hat jedes Detail obsessiv bis zur Vollendung erdacht und umgesetzt. Wochenlang dauerten teilweise Aufbau und Dreh eines Bildes; die Musik wurde punktgenau komponiert von Ex-ABBA-Mitglied Benny Andersson. Ein Ausnahmeregisseur ist Andersson nicht nur in ästhetischer Hinsicht, sondern auch durch seine Vita. Mit seinem ersten Spielfilm, der Teenager-Geschichte „A Swedish Love Story" (1970), war er erfolgreich, sein zweiter, formal spröderer „Giliap" (1975) floppte. Es folgten 25 Jahre mit gut 300 Werbeclips und Kurzfilmen, die ihm ermöglichten, eine eigene Produktionsfirma aufzubauen und seinen stilistisch reduzierten, doch szenografisch opulenten Stil zu entwickeln. Für seinen dritten Langfilm „Songs from the Second Floor" benötigte er über vier Jahre Drehzeit und bekam erst Förderung, als er die ersten 15 Minuten präsentieren konnte. Anderssons Vision vom Weltende kommt nicht als explosiver Super-Gau daher, sondern als Stillstand des Systems, sichtbar in den langsamen Bewegungen der Menschen, dem ständigen Stau, den Räumen, die Wartehallen ähneln. In dieser Haltung erinnert er ans finnische Kino oder auch Bela Tarrs „Satanstango" (fd 30 808). „Wir schwimmen alle in dieser Suppe von absurden Werten und absurder Erbschaft", sagt Andersson und meint damit Prinzipien wie Autoritätsgläubigkeit, Demütigung und die Ausbeutung der Schwachen. Vampirisch wie einst Momos Feinde, die grauen Herren, leben die Geschäftemacher, Direktoren und braven Bürger von der Energie untergebener Menschen. Über die Kapitalismuskritik hinaus fühlt sich Andersson auch einem religiösen Konzept nahe, vorausgesetzt, man streicht Gott daraus. Seine Protagonisten wollen Mensch bleiben und leiden an ihrer Erstarrung. So sucht Karl mit seinem Kruzifix-Business nach Erlösung und demonstriert doch nur den Ausverkauf spiritueller Werte. Eine moderne Vision der Hölle tut sich auf, nämlich das Bewusstsein der eigenen Schuld, die selbst mit einem alttestamentarischen Menschenopfer nicht zu tilgen ist. Tröstliche Augenblicke sind nur bei der jüngeren Generation zu finden, die sich bisher verweigert hat. Als ein Paar in einer umarmenden Geste gemeinsam Flöte spielt, lässt dieser zärtliche Moment einen leisen Funken Hoffung aufschimmern. Doch der kommt nicht an gegen die Grundstimmung des Films, den das beiläufige Fazit eines Anstaltsinsassen auf den Punkt bringt: Seiner Meinung nach wurde Jesus nur gekreuzigt, weil er ein viel zu netter Mensch gewesen sei.
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