Sowjetmacht plus Elektrifizierung

- | Frankreich 2001 | 175 Minuten

Regie: Nicolas Rey

"Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung" - so lautete die Formel Lenins, die jeder im Machtbereich der Kremlführung aufwachsende Schüler auswendig lernen musste. Zwölf Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks macht sich ein Mann mit einer Super-8-Kamera von Paris aus auf die Reise nach Russland, um zu sehen, was von den großspurig verkündeten Idealen noch übrig geblieben ist. Ergebnis ist kein herkömmliches filmisches Reisetagebuch, sondern ein hochkonzentriertes Essay über die Ambivalenz von Utopien, über ihre Antriebe und Abgründe. Der innovative experimentelle Film stellt das erste Opus Magnum der lebendigen Underground-Filmszene in Frankreich dar. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
LES SOVJET PLUS L'ÉLECTRICITÉ
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Nicolas Rey
Regie
Nicolas Rey
Buch
Nicolas Rey
Kamera
Nicolas Rey
Schnitt
Nicolas Rey
Länge
175 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.

Diskussion
„Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung“ – so lautete die Formel Lenins, die jeder im Machtbereich der Kremlführung aufwachsende Schüler auswendig lernen musste. Zwölf Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks macht sich ein Mann mit einer Super-8-Kamera von Paris aus auf die Reise nach Russland, um zu sehen, was von den einst großspurig verkündeten Utopien noch übrig geblieben ist. Sein Ziel ist der äußerste Zipfel Sibiriens, die Halbinsel Magadan mit der gleichnamigen Provinzhauptstadt, die in den 40er-Jahren von Strafgefangenen erbaut wurde. „Nach Magadan fährt man nicht ohne Grund“, sang einst Wladimir Wissotzki und spielte damit auf das Tabu des sowjetischen Terrorismus gegen die eigene Bevölkerung an. Eine Verszeile, die dem jungen Franzosen später das Leben retten wird. Bis zu diesem letzten Abenteuer widerfährt ihm viel Sonderbares. Seine anfangs formulierte Absicht, sich durch diese Reise endlich die eigene Romantik auszutreiben, wird freilich erfolglos bleiben. Vor seiner Selbstfindung als Filmemacher war Nicolas Rey (geb. 1968) Ingenieur für Kraftwerksbau. In dieser Funktion weilte er unmittelbar nach dem Zerfall der Sowjetunion schon einmal in Kiew, verbrachte ein Jahr in der ukrainischen Millionenmetropole am Dnjepr. Französische Großkonzerne drängten damals wie andere auch nach Osten, um sich im Energiesektor des auflösenden Riesenreichs Vormachtsstellungen zu sichern. Im Verbund mit der Tatsache, aus einer kommunistisch geprägten Familie zu stammen (sein Großvater gehörte der FKP seit Gründung an), ließ ihn diese Erfahrung nicht mehr los. So, wie es russische Intellektuelle und Aristokraten über Jahrhunderte hinweg immer wieder nach Paris gezogen hatte, so vollzog Rey im Jahr 1999 im Umkehrschluss eine individuelle Expedition in die Gegenrichtung. Im schmalen Reisegepäck befanden sich neben den notwendigsten Überlebenshilfen ein Diktiergerät, eine Super-8-Kamera sowie mehrere Rollen Filmmaterial. Dieses stammte von der sowjetischen Firma ASSOFOTO, war noch zu Zeiten der UdSSR hergestellt worden und hatte genau aus diesem Grund sein Verfallsdatum längst überschritten. Schon diese Voraussetzungen verweisen darauf, dass mit „Sowjetmacht plus Elektrifizierung“ alles andere als ein konventioneller Reisefilm konzipiert war. Seine aufs Äußerste reduzierte Ausstattung schlägt sich folgerichtig auch im Ergebnis wieder. Man hat es mit einem fast dreistündigen, vorrangig aus unscharfen, verwackelten, mit zahlreichen Schwarzblenden durchsetzten Marathonwerk zu tun, dessen Tonspur aus meist verrauschten, oft hastig ins schlechte Mikrofon des Diktiergeräts gesprochenen Kommentaren besteht – auf den ersten Blick eine Zumutung. Profan erklärbar mit den Tatsachen, dass es sich faktisch um ein No-Budget-Projekt handelt und eine lange Reise durch ein riesiges Land eben nun einmal auch eine adäquate filmische Zeit braucht. Reys Film ist jedoch sehr viel mehr. Seine Reise führt von Paris über Berlin, Warschau, Kiew und Moskau nach Sibirien; in jenes unvorstellbar große Land hinter dem Ural, in dem sich jede konkrete Vorstellungskraft europäischer Provenienz von jeher verlor. Sibirien als Metapher für die Grenzen eurozentrischen Denkens zu denken, hat Tradition; man lese nur Dostojewkskis „Erzählungen aus einem Totenhaus“, Solschenyzins „Archipel Gulag“ oder selbst Bauers „So weit die Füße tragen“. Sibirien muss weniger als geografische denn als mentale Dimension verstanden werden, als Kontinent der Entropie, in dessen vagem Wertesystem wohlerprobte Parameter nur noch rudimentär Anwendung finden. Aus dieser Erkenntnis heraus unternimmt Rey seine Reise nicht als zeitlich und räumlich begrenzte Expedition in unbekannte Gestade zum Zwecke der Aufklärung Außenstehender, sondern als Exerzitium der eigenen Psyche. „Sowjetmacht plus Elektrifizierung“ ist ein Selbstversuch, kein Erklärungsunterfangen. Nichts von dem, was man von einem Reisefilm durch die legendären, unendlichen Weiten Russlands gemeinhin erwartet, kommt in den drei Stunden vor. Keine verschneiten Weiten oder austrocknenden Binnenmeere, keine zauseligen alten Leute, die hundertgrammweise Wodka einschenken, nicht einmal die üblichen, zwischen Trotz und Fatalismus schwankenden Sibirier, die auf Moskau schimpfen und sich doch nach Moskau sehnen. Folklorismus findet keinen einzigen Moment lang statt. Die grobkörnigen Bilder und der allen Digital-Dolby-Surround-Hörgewohnheiten Hohn sprechende Ton fokussieren stets das im wahren Sinne des Wortes Abwegige, niemals das (scheinbar) Explizite. So wird man Zeuge, wie ein Tanklaster irgendwo zwischen Bratsk und Jakutsk stundenlang versucht, aus einem riesigen, mit Schlamm gefüllten Schlagloch zu entkommen, und lauscht den genuschelten Bemerkungen des Regisseurs/Reisenden über die letzte Dose Ölsardinen. Rey legte tausende Kilometer abseits der großen Schneisen zurück, die einst zum Zwecke der Kolonialisierung in die Ödnis Sibiriens geschlagen worden sind, benutzte Linienbusse und -schiffe, fuhr per Anhalter, ging zu Fuß. Entsprechend ist auch sein Blick kein konzentrischer. An einer Bushaltestelle fasziniert ihn vor allem die Tatsache, dass diese nicht als solche zu erkennen ist. Und wir, die Zuschauer, lernen mit ihm die Logik des scheinbar Irrationalen: wer in Sibirien reisen will, muss eben wissen, an welcher Stelle der Bus vielleicht irgendwann hält. Wo Leitsysteme obsolet werden, erübrigen sich auch letzte Simulationen der Dienstleistungsgesellschaft. Es ist ja nicht so, dass es hier gar keine Orientierungsstruktur gäbe – nur verbirgt sich diese unter der Schicht des primär Wahrnehmbaren. Rey findet dafür adäquate filmische Lösungen: Die Patina seiner Bilder und Töne legt sich als Schleier über den Blick des Europäers, gibt niemals vor, die Realität dokumentarisch abbilden zu können. Der Fremdheit wird damit ihre Würde belassen. Beim Weg durch diese Zone fungiert die Amateurkamera als Wünschelrute der Selbstvergewisserung. Ray filmt so, wie der Stalker in Tarkowskijs gleichnamigem Film (fd 22 921) seine Schraubenmuttern wirft. Frankreich erlebt derzeit eine Renaissance des Experimentalfilms. Vor allem in Grenoble und Paris gelang es jungen Filmemachern, autarke Strukturen für Produktion und Vertrieb zu schaffen. Nicolas Reys Film ist das erste Opus Magnum dieser umtriebigen Szene. Mit seinen langen Schwarzblenden, dem kontrapunktischen Auseinanderdriften von Bild und Ton und der Einbeziehung von Fehlern und Schäden knüpft der Film einerseits an frühe Traditionen der französischen Avantgarde wie Guy Debords „Geheul für de Sade“ (1952) an, betritt durch die komplexe inhaltliche Hinterfütterung dieses Materials andererseits Neuland. Denn jenseits aller formalen Verwischungs- und Dehnungsstrategien geht es Rey sehr wohl um ein konkretes inhaltliches Anliegen. Leitmotiv dieser eigentlich konventionellen, d.h. aufklärerischen Botschaft ist Wladimir Wissotzkis Ballade über Magadan, dem finalen Reiseziel. In diesem Lied heißt es anspielungsreich, dass niemand ohne Grund auf diese Reise geht. Der einzige Grund, nach Magadan zu reisen, bestand jahrzehntelang in dem Umstand, in Verbannung, Zwangsarbeit und Tod verschickt zu werden. Wissotzki, der russische Serge Gainsbourg, fokussierte mit seinem Magadan-Lied den Stalinschen Staatsterrorismus, der Millionen von Menschenleben forderte und bis zum Ende der Sowjetunion tabuisiert blieb. Indem Rey die Reise nach Magadan scheinbar ohne Grund vollzog, nahm er die eigenen Irrtümer – und auch die seiner Großeltern und Eltern – auf sich. Zahllose Linksintellektuelle des Westens hatten aus komfortabler Wohlstandswarte die Sowjetunion vehement idealisiert. Rey hat es auf sich genommen, wenigstens die Trümmer der Verheißung zu besichtigen. Sein Film ist vor allem ein Requiem: ein kolossales, dabei höchst privates Requiem auf kollektive Utopien. Nicht zufällig passiert er bei seiner West-Ost-Passage die Nähe Tschernobyls. Der im Todesjahr Tarkowskijs kollabierte Atomreaktor korrespondiert mit Reys einstiger Profession, steht aber vor allem als makabre Metapher für das pervertierte Glücksversprechen, aus der Verbindung von „Volksherrschaft“ und Elektroenergie das Paradies auf Erden zu schaffen. Die Folgen sind bekannt.
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