Ellen Calling - Nachricht vom Schicksal

- | Belgien/Niederlande/Deutschland 2004 | 106 Minuten

Regie: Rudolf Mestdagh

Eine junge Frau, Tochter eines Gangsterbosses, wird zur Schicksalsgöttin für eine Hand voll Menschen, die durch Unglückfälle aus der Bahn geworfen wurden. Indem sie neue Partnerschaften und neuen Lebenssinn stiftet, kann sie sich selbst von ihrer Vergangenheit lösen. Avantgardistischer Film noir in Form eines modernen Märchens, der virtuos alte Mythen und Sagen interpretiert, um Werte wie Menschlichkeit und Liebe auch in Zeiten scheinbarer Ausweglosigkeit zu vermitteln. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ELLEKTRA
Produktionsland
Belgien/Niederlande/Deutschland
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Cosmo Kino/Ijswater Films/Schmidtz Katze Filmkollektiv
Regie
Rudolf Mestdagh
Buch
Daniël Lamberts · Rudolf Mestdagh
Kamera
Danny Elsen
Musik
Brian Clifton · David Shea · Steven Brown
Schnitt
Jan Hameeuw
Darsteller
Axelle Red (Anna) · Manou Kersting (Cabron) · Marie Bos (Cynthia) · Matthias Schoenaerts (DJ Cosmonaut X) · Serge-Henri Valcke (Don Aimé)
Länge
106 Minuten
Kinostart
08.09.2005
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Stardust (1:1.78/16:9/Dolby Digital 5.1)
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Diskussion
Lebensgeschichten und Schicksale werden auf geheimnisvolle Weise miteinander verwoben. Ellen ist Schicksalsgöttin, Verfolgte, Gequälte, Gerettete und Sinnstifterin zugleich. Die Menschen in ihrem Leben brauchen einander, sind einander noch fremd, werden aber unweigerlich miteinander verbunden. Durch Schicksalsschläge ihres Lebenssinns beraubt, führt Ellen sieben Menschen schicksalhaft aufeinander zu. Wie von Dämonen wird sie von ihnen beherrscht, hat sie am Ende aber in ihrem Buch „Ellektra“ mit Porträts und Zeitungsartikeln gebannt. Befreien kann sie sich von ihnen nur, indem sie Schicksalsgöttin spielt. Ellen ist in der Drogenszene untergetaucht. Ihr Vater, der Gangsterboss Aimee, setzt seine Häscher auf sie an. Eine drogenabhängige Ex-Journalistin, die ihr Baby durch einen von ihr verschuldeten Verkehrsunfall verlor, stöbert Ellen auf und versteckt sie bei ihrem Freund, der mit einem Huhn in seiner Gewächshauswohnung lebt. Doch ein Handlanger Aimees zerrt Ellen aus ihrem Versteck und schleift sie zu ihrem Vater, der sie im Gasometer einsperrt. Dort gelingt Ellen jedoch ihr größter Coup: Dank SMS wendet sie das Schicksal der Menschen, die ihr etwas bedeuten. Gleich Hermes wird sie zur Götterbotin: Ihre Nachrichten verbinden das Schicksal vom DJ Wilfried, der seit seinem Tauchunfall ohne Gehör ist, mit dem der Klavierkomponistin Anna, die von grausamen Psychiatern ihres Tastsinns beraubt wurde. Trotz ihrer verstümmelten Finger vermag sie noch virtuos Klavier zu spielen. In Liebe zueinander erkennen sie im Anderen ihr Pendant, ihren künstlerischen Funken. Ellen verknüpft das Leben des Parfumeurs Harry, dessen Leben ohne Geruchssinn leer geworden ist, mit der Mutter von Ludevic, die ihm dank ihrer Begabung in der Geruchsidentifikation zu atemberaubenden Parfumkreationen verhilft. Harry und Ludevic ergänzen einander: Er erhält in Ludevic einen Sohn, mit dem er seinen Traum vom Fliegen realisiert. Ludevic, der seit einem missglückten Diebstahl gehunfähig ist, erlebt mit Harry im Heißluftballon sein Glück. Die stumme Tänzerin findet in Sams Freund, dessen Körper mit Brandwunden übersät ist, einen neuen Geliebten, der ihre Liebe zur Schauspielkunst akzeptiert. Ellen fungiert bei allen als Glücksbringerin. Als Gefangene nimmt sie auch ihr eigenes Schicksal in die Hand: Per SMS holt sie Sam zur Hilfe. Sam, mit dem Polizeichef im Schlepptau, enttarnt diesen als Drogenbaron und wird unfreiwillig zur Heldin. Im großen Showdown ersticht Sam den Cop, der seinerseits Sam erschießt. Ellen hat Sam verloren, gewinnt eine neue Identität und begräbt die Dämonen der Vergangenheit, indem sie die Porträts dem Fluss übergibt. Gelassen und befreit geht Ellen aus dem Bild; ein neues, selbstbestimmtes Leben kann beginnen. „Ellen Calling“, der Film des flämischen Regisseurs Rudolph Mestdagh, konnte Festivalerfolge verbuchen. Ein moderner Film noir, avantgardistisch in seinen filmischen Mitteln, radikal im Entwurf der Seelenlandschaften und ihrer Interieurs, extrem in den Aussagen über den Sinn des Lebens und das Miteinander von Menschen in Einsamkeit, Trostlosigkeit und scheinbarer Ausweglosigkeit. Vom Leben bestraft, existieren die Protagonisten am Rande der Gesellschaft, fühlen sich als Underdogs der reichen Industrie-Nation und als Zivilisationsmüll, entwickeln aber dennoch eine hohe Menschlichkeit: sie schenken Nähe, Geborgenheit, Verständnis und Liebe – wozu sie allerdings eines Deus ex machina bedürfen: Ellen. Dank dieser Götterbotin und Schicksalsgöttin wird ihnen neuer Lebenssinn geschenkt. Indem sie den Menschen ihre Schmerzen nimmt, Ängste und Depressionen besiegen hilft, weil sie in ihren neuen Partnern Ergänzung oder Vervollständigung finden, wird Ellen zur Sinnstifterin, ohne selbst direkt in Erscheinung zu treten. Als Gesuchte und Gequälte überwindet sie diese Rollen, wird gar zur Schicksalsvollstreckerin. Unabsichtlich ist sie für den Tod von Sam und dem Polizeichef verantwortlich. Ellen, die Gesuchte, findet im Nächsten die Erfüllung des eigenen Schicksals und löst dadurch ihren eigenen gordischen Knoten. Als sie ihr Buch „Ellektra“ dem Wasser übergibt, entledigt sie sich der Bürde, für das Glück der Anderen sorgen zu müssen, und wird dadurch ihres eigenen Glückes Schmied. Der Film arbeitet durchgängig mit Parallelmontage, wobei sich die Inszenierung virtuos dieses Erzählprinzips bedient, auf eine kühle Ästhetik der City setzt und mit großen Gefühlen und Gesten Porträts von Menschen zwischen scheinbarer Ausweglosigkeit und erfüllter Hoffnung schafft. Der Film verweist auf Sophokles’ „Elektra“, der sich Ellen in Denken, Fühlen und Handeln verpflichtet fühlt. Für seine moderne „Elektra“-Adaption bedient sich Mestdagh beim Expressionismus, lässt seine Heldin zwischen Großstadhaien, Underdogs und Bourgeois’ agieren. Ein avantgardistischer Film noir als modernes Märchen, inszeniert nach den Sagen der Antike mit existenzialistischem Impetus.
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