Was lebst du?

Dokumentarfilm | Deutschland 2004 | 87 Minuten

Regie: Bettina Braun

Beeindruckender Dokumentarfilm über eine Gruppe Kölner Jugendlicher aus verschiedenen Ethnien, die sich im Rahmen einer HipHop-Band von ihrem soziokulturellen Umfeld zu lösen versuchen und von einer Zukunft als Künstler träumen. Die von großem persönlichem Engagement getragene Langzeitstudie kommt ihren Protagonisten nahe, lotet deren Befindlichkeiten und kulturelle Wurzeln aus und beschreibt einen Emanzipationsprozess. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Icon Film/ZDF (Das kleine Fernsehspiel)
Regie
Bettina Braun
Buch
Bettina Braun
Kamera
Bettina Braun
Schnitt
Gesa Marten · Bettina Braun
Länge
87 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Das Kölner Eigelstein-Viertel ist keine randstädtische Bettenburg, wo es nur so von Problemkindern mit Migrationshintergrund wimmelt, sondern ein überschaubares Biotop im Herzen der Stadt. Und doch ist die Realität multi-ethnischer Lebenswelten an jeder Ecke präsent. „Du musst das verstehen, Mann, wir sind nicht so wie Deutsche. Das ist ganz anders bei uns! Mein Vater würde sich freuen, wenn ich zu beten anfinge und mich Gott richtig widmen würde. Nicht, wenn ich in einem Musical mitmache, wenn ich wie ein Hampelmann da rumtanze.“ Wenige Szenen später blüht der 21-jährige Ali auf der Bühne des Kölner Schauspielhauses auf, genießt sichtlich seine Hauptrolle in dem von Sozialpädagogen initiierten Projekt und schmiedet wagemutige Lebenspläne zwischen Bafög-Antrag und einer Schauspielausbildung. Von einem dem strengen Vater gefälligen Leben ist dann keine Rede mehr. „Ich glaub, ich krieg mein Traum-Flash“, vertraut er auf dem Höhepunkt seiner Zuversicht selbstironisch der Kamera von Bettina Braun an, die ihn zwei Jahre lang durch alle Höhen und Tiefen einer mangels adäquater Ausbildung wenig Hoffnung bietenden Biografie begleitet hat. Die Familien der jungen Männer, die Bettina Braun, Absolventin der Kölner Kunsthochschule für Medien (KHM), für ihren Debütdokumentarfilm „Was lebst du?“ porträtiert, haben Wurzeln in Marokko, Tunesien, der Türkei und Albanien. Sie tragen Vornamen wie Ertan, Kais oder Alban, sind geborene Kölner und Moslems, geben sich großmäulig-machohaft und gelegentlich auch kölschkundig, gehören trotz unterschiedlicher Herkunft einer Clique an und sind doch ganz auf sich selbst gestellt, in einer Umgebung, die nicht immer Verständnis für ihre Doppelidentität aufbringt. Sie träumen von Karrieren als Starfriseur oder Rapper – und können sich glücklich schätzen, wenn sie eine Ausbildung zum Elektriker schaffen. Wann immer sie beisammen sind, wird diskutiert, als ginge es ums Ganze, auch wenn das oft so nichtig ist, dass man sich unter ganz gewöhnlichen Pubertierenden wähnt. Köln als Sehnsuchtsort kommt in der auf Video gedrehten, ästhetisch wenig ambitionierten Dokumentation nicht vor: Austauschbare Hausaufgänge, U-Bahn-Stationen oder Jugendtreffs wie das „Klingelpütz“ genügen den Jugendlichen als natürliche Bühne ihrer Gruppeninszenierung; kurze Haare, die millimetergenau getrimmten Bartlinien um den Mund und der simple Wertedualismus zwischen „cool“ und „schwul“ weist sie als versierte Konsumenten des HipHop-Lebensgefühls aus. Sie leben im Gegensatz zu ihren Eltern in einer von westlicher Popkultur dominierten „Parallelgesellschaft“, die bei den Jugendlichen in den Ghettos der Metropolen dieser Welt überall gleich aussieht. Man hat sie vor Jahren schon in französischen Produktionen wie „Hass“ (fd 31 571) von Matthieu Kassovitz kennen gelernt. Das französische Kino, das die Untergattung des Cinéma Beur hervorbrachte, ist reich an Filmen unterschiedlichster Provenienz, die vom Gelingen und vom häufigeren Misserfolg der Integration von Migrantenkindern erzählen. Das deutsche Kino hingegen tut sich bis auf Fatih Akin, der durch seine Herkunft selbst betroffen ist, schwer mit dieser Thematik, die höchstens in anspruchsvolle Fernsehspiele Eingang findet. Dieses Defizit zu beheben, ist das große Verdienst von Bettina Braun. Sie wagt sich mitten hinein in eine vermeintlich fremde Welt, lässt junge Männer zu Wort kommen, die sich nichts sehnlicher wünschen als einen geregelten Job und familiäre Nestwärme, die einer unaufgeregten Aufmerksamkeit bedürfen, fern der üblichen Stereotypen vom sozialen Problemfall bis zum potenziellen „Schläfer“. Die Regisseurin setzt ganz auf den Faktor Zeit, der scheinbar zwangsläufig die nötige Dramaturgie mit sich bringt. Vor allem Ali macht eine Verwandlung durch, die man ihm zu Beginn dieser Studie nicht zugetraut hätte. Mit der bedingungslosen Anteilnahme in jeder Form – der des Begleitens zu Prüfungen und Bewährungssituationen, des Einblicks in familiäre Zusammenhänge, Werte und Einschränkungen – dokumentiert Braun einen extrem spannenden Mikrokosmos. Ihre Zuneigung gegenüber den Porträtierten bedarf keiner großen Gesten, hindert sie aber manchmal daran, deren Selbstinszenierung stärker zu hinterfragen. Vielleicht ist das aber zugleich der Grund, dass sie hinter der harten Schale auch Ängste und Verletzungen aufdecken kann, die das Nichtangenommensein, der Heimatverlust mit sich bringen. Bisweilen dient Braun als Katalysator, zwingt den einen oder anderen zum Handeln und zur Konfrontation mit den eigenen Illusionen und der Notwendigkeit harter Arbeit, um die hoch gesteckten Ziele zu erreichen. Beiläufig lenkt die Filmemacherin die Aufmerksamkeit der Jugendlichen beispielsweise auf ihren dicken Bauch hin, den sie hinter der Kamera verbirgt, und lässt sich Fragen über ihre Schwangerschaft gefallen – eine Taktik gegenseitiger Selbstentblößung, die aufzugehen scheint. Irgendwann ist ihr neugeborener Sohn bei den Dreharbeiten mit dabei und landet in den Armen ihrer sichtlich irritierten Gesprächspartner. Streckenweise ist das rührend erzählt, begleitet von einer subtilen Komik, die nicht immer frei von Überzeichnung ist, was jedoch schlicht der warmherzigen, trotz aller sozialen und individuellen Hindernisse lebensbejahenden Einstellung der Jugendlichen geschuldet ist.
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