- | Deutschland/Lettland 2005 | 89 Minuten

Regie: Fred Kelemen

Ein Mann begegnet nachts auf einer Brücke einer Frau, die in die Tiefe springen will, greift aber nicht ein. Erst nach ihrer Tat reut ihn seine Passivität. Er beginnt, den Spuren der Frau zu folgen und nach ihren Beweggründen zu forschen, wobei er zunehmend die Distanz verliert. Dunkles, weitgehend nachts spielendes Drama, dessen insistierende Bildsprache bedrängende Tableaus der Düsternis entwirft, in denen die metaphysische Unbehaustheit des Menschen aufscheint. Dabei droht die zunehmende Verknüpfung der losen Erzählfäden die abgründige Ästhetik des melancholischen, weitgehend dialoglosen Films zu untergraben. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
KRISANA
Produktionsland
Deutschland/Lettland
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Kino Kombat/Screen Vision
Regie
Fred Kelemen
Buch
Fred Kelemen
Kamera
Fred Kelemen
Musik
Ramachandra Borcar
Schnitt
Fred Kelemen · Franka Pohl · Klaus Charbonnier
Darsteller
Egons Dombrovskis (Matiss Zelcs) · Nikolaj Korobov (Alexej Mesetzkis) · Vigo Roga (Kommissar) · Aija Dzerve (Alina) · Gundars Silakaktins (Bar-Mann)
Länge
89 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
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Diskussion
Nacht. Eine Brücke. Ein Mann. Eine Frau. Fremde. Ihre Blicke treffen sich. Ihren selbstmörderischen Sturz in die Tiefe verhindert er nicht. Er kann sie nicht vergessen. Sie wird zu seiner Obsession“, fasst das Presseheft den Inhalt von Fred Kelemens jüngster Odyssee durch die Finsternis zusammen. Falsch ist das nicht und wahrscheinlich sogar angetan, Zuschauer vor die Leinwand zu locken. Doch dort endet dann auch schon das Geländer aus Worten, weil man in Kelemens düsteren Dramen alsbald verloren geht – und gut beraten ist, sich nur auf seine eigene Wahrnehmung zu verlassen. Denn wie alle näheren oder ferneren Ahnherren dieses schweigenden Kinos liebt es auch der in Berlin lebende Filmemacher, ästhetisch spröde Erfahrungsräume zu entwerfen, die jeder für sich durchmessen muss. Hier drängt sich nichts auf oder hält in Atem, hier wird das Auge nicht überwältigt, die Seele nicht manipuliert; im Gegenteil: selbst die losen Erzählfäden drohen in den minutenlangen Passagen ins Ungefähre zu entschwinden, die Figuren sind keine psychologisch grundierten Charaktere, sondern höchstenfalls einsame Sonderlinge, Gattungsexemplare, die durch eine freudlose, unbehauste Welt taumeln. Dafür wird man dann aber mit großartigen Sequenzen wie jener belohnt, wenn die Hauptfigur anderntags zu der Brücke zurückkehrt, die nun im breiten Sonnenlicht da liegt. 20 Stunden zuvor hatten wenige schummrige Bogenlampen fahle Kegel aus der Dunkelheit geschnitten, in deren Widerschein die unerwartete Begegnung ein gespenstisches Ende nahm. Jetzt sieht man Bäume, durch die der Wind streicht; man kann sogar die Konstruktion erkennen, wenn der Mann zögernd die Treppen nach oben steigt; wo ihn die (Steadycam)-Kamera schon erwartet – und nicht mehr loslässt, minutenlang, in einer Mischung aus Unerbittlichkeit und Solidarität. Die hagere Gestalt windet sich, weiß nicht, wohin sie gehen oder schauen soll, sucht schließlich den Platz, von dem die Frau gesprungen ist, wendet sich ab und der anderen Seite zu, wo sich Kinder am Ufer tummeln. Über diesen fast sepiafarbenen Schwarz-Weiß-Bildern liegt das beständige Rauschen der Blätter, ein fortwährendes kühles Wispern und Raunen, in das sich schließlich von fern die Rufe der Kinder mischen, die gegen Ende der Einstellung auch in den Blick kommen; in einer charakteristischen Aufnahme, rechts am Hinterkopf des Mannes vorbei, der ein Drittel der Leinwand füllt. Eine absolut stimmige, in ihrer Atmosphäre bezwingende und obendrein noch ungeschnittene Sequenz, deren referierbarer „Inhalt“ – das schlechte Gewissen treibt an den Ort der unterlassenen Hilfeleistung zurück – in markantem Gegensatz zur Länge und dem enormen Assoziationsfeld steht, das durch die insistierende Bildsprache eröffnet wird. Kelemens Verwandtschaft mit den Metaphysikern des Kinos erschöpft sich jedoch nicht im Stilistischen; mit Bresson, Tarkowskij und Tarr verbindet ihn neben der künstlerischen Sturheit vor allem die Nähe zu philosophischen Themen. Während das eigentliche Geschehen, der Sprung bzw. der Entschluss, nicht einzugreifen, sprachlos bleiben, will der ermittelnde Kommissar das Grauen, das über dem anbrechenden Morgen liegt, durch einen nicht endenden Wortschwall vertreiben. In seinem grotesken Monolog klingt der intellektuelle Horizont (auch der Kelemens) an: die verzweifelte Frage nach „dem Menschen“ als dem einstigen Abbild Gottes, das aus der Gnade gefallen, am Rande des Abgrunds torkelt. So unzeitgemäß eine solche Terminologie auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so sehr verleiht sie der durchgängigen Tristesse dieses Films doch erst ihre markante Schärfe, die selbst produktionsbedingte Mängel in erzählerische Qualität verwandelt. Die verwaschene Schwarzpalette des Films, der über weite Strecken nachts spielt und Dunkelheit in den verschiedensten Bedeutungen dramaturgisch akzentuiert, ist zwar dem billigen DV-Format geschuldet, gewinnt im Kontext des Exemplarischen aber fast programmatischen Charakter: als schlierig-pulsierende Zone an der Grenze zum Nichts, das unablässig an den Figuren und ihren sich auflösenden Welten nagt. Deshalb hält es der Mann im Licht auch nicht lange aus. Einmal steht er an seinem Arbeitsplatz zwischen turmhohen Regalen in gleißender Helligkeit, die alle Konturen verschwimmen lässt und sich wie warmer Regen von oben ergießt; doch eine Stimme zwingt in die unwirsche Wirklichkeit zurück, die sich weigert, ins Unterbewusste abgeschoben zu werden. Es treibt ihn zurück zur Brücke und zur Bar, wo sich die Verzweifelte zuletzt aufgehalten hatte. Wie ein Detektiv im Film noir sucht er nach Spuren und Anhaltspunkten, als könnte das Wissen um die Hintergründe die eigene Unruhe befrieden. Später sitzt er zu Hause an einem Tisch und streift mit schweren Händen zerknitterte Briefbögen glatt. Drei Abschiedsbriefe, drei Anläufe, Ade zu sagen. Adressat ist der Liebhaber, die erste große Liebe, um derentwillen die Frau ihren Ehemann und ihr Kind verlassen hat, als er nach Jahren plötzlich wieder vor der Tür stand. Doch der Traum vom Paradies währte nur kurz. Jeder der Briefe schlägt einen anderen Ton an, tariert Glück, Schuld und Verantwortung jeweils anders, um mitten im Versuch plötzlich mutlos wieder abzubrechen. Nuancen, die der ungebetene Leser nicht registriert. Stattdessen tauchen Fotos auf, gestochen scharfe Indizien, die zum Geliebten führen, zu Konfrontation und neuem Unheil, neuer Schuld. Mehr als die stotternde Bitte um Vergebung bleibt am Ende nicht übrig, um der wachsenden Verzweiflung Herr zu werden. In der letzten Einstellung steigt der Mann frühmorgens zum brackigen Wasser hinunter, das dunkel vor sich hin treibt. Ein kaltes, mitleidsloses Bild bar jeden Trostes, das sich von der klammen Eröffnungssequenz insofern unterscheidet, als die abgründige Verstrickung nun offen zu Tage liegt. Prägnanter lässt sich die Bedeutung des lettischen Originaltitels „Krisana“ kaum in Szene setzten, der von der gefallenen Welt als metaphysischem Faktum spricht, während der deutsche Titel „Glut“ eher auf eine moralische Dimension abhebt. In dieser Differenz klingt eine grundsätzliche Spannung an, die auch auf der Inszenierung lastet. Denn Kelemen verschiebt den erzählerischen Fokus mit zunehmender Dauer in Richtung Handlungslogik, bis der Film am Ende eine überraschende Wende nimmt, die nicht nur dem einsamen Helden, sondern auch dem Zuschauer einen radikalen Perspektivenwechsel abverlangt. Ein solcher Kniff erzwingt zwar Aufmerksamkeit, weil das Geschehen plötzlich aus einer anderen Perspektive beleutet wird, untergräbt aber auch die nicht-narrative Ästhetik von Kelemens Kino. Vom Ende her könnte der Film mühelos als Geschichte erzählt werden, wobei der Plot dann auf die Idee eines Kurzfilms zusammenschnurren würde, in dem alles auf die Schlusspointe hin inszeniert ist. Das aber hat mit „Glut“ nichts zu tun und würde dem Film zu Recht Fragen nach seiner Stringenz und erzählerischen Ökonomie auflasten. Gegen solche Kurzschlüssigkeit muss Keleman in Schutz genommen werden, auch wenn solche Anfragen nachvollziehbar sind. Die Größe seiner Filme liegt nicht in referierbaren Inhalten, sondern in der abgründigen Erfahrung von Kino als einer Sphäre ästhetisch-existentieller Unmittelbarkeit, die sich erst in einem zweiten Schritt in die Welt der Diskurse überführen lässt.
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