Der irrationale Rest

Dokumentarfilm | Deutschland 2005 | 95 Minuten

Regie: Thorsten Trimpop

Zwei Jahrzehnte nach einer gescheiterten Flucht aus der DDR erinnern sich drei ehemalige Freunde an die damaligen Umstände, reflektieren über die unmenschlichen Haftbedingungen in einem Stasi-Gefängnis, über Angst, Selbstzweifel, vermeintlichen und tatsächlichen Verrat und die Unmöglichkeit zu vergessen. Dabei knüpft der Dokumentarfilm sein psychologisches Geflecht nicht aus asketischen Gesprächsprotokollen, sondern zwingt seine Protagonisten immer wieder in Situationen, die kinowirksame emotionale Ausbrüche garantieren. Solche inszenierten Momente tragen aber kaum zum Erkenntnisgewinn bei und versperren eher den Blick auf Innenwelten. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Credofilm/ZDF/HFF
Regie
Thorsten Trimpop
Buch
Thorsten Trimpop
Kamera
Hanno Moritz Kunow
Musik
Michael Jakumeit
Schnitt
Sarah J. Levine
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Ost-Berlin, Mitte der 19080er-Jahre. Drei junge Leute verbringen ihre Zeit meist gemeinsam: Suse und ihr Partner Matthias sowie Susanne, Suses engste Freundin. Susanne will raus aus dem Land, in dem sie den Beruf einer Krankenschwester nicht erlernen darf und keine Luft zum Atmen mehr zu bekommen glaubt. Auch Matthias möchte weg. Suse ist in alles eingeweiht, aber im Gegensatz zu ihren beiden Freunden kommt eine Flucht in die Bundesrepublik für sie nicht in Frage: Ihre Familie, zu der sie gute Beziehungen hat, lebt in der DDR, und auch ihr Lehrerstudium läuft ohne Probleme. So fahren Matthias und Susanne allein in die Tschechoslowakei, von wo aus sie über die Grenze in den Westen wollen. Doch der Versuch misslingt, die beiden werden an die DDR ausgeliefert, geraten in Stasi-Haft. Auch Suse wird verhört; ob sie dabei Susanne belastet, bleibt ungewiss. Danach haben sich die Freunde niemals wieder gesehen – bis zu dem Moment, in dem Thorsten Trimpop sie vor die Kamera brachte. Für seinen Film graben sie in jenen Erinnerungen, die sie in den untersten Schubladen ihres Gedächtnisses abgelegt zu haben glaubten und die sie dennoch auf eigentümliche Weise umtreiben. Das Vergangene ist nicht vergessen, auch wenn sie das noch so sehr hofften. Matthias, der am offensivsten mit der Geschichte umgeht, hat als einziger seine Stasi-Akte gelesen und arbeitet nun als „lebender Zeitzeuge“ im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen. Die beiden Frauen haben sich abgeschottet, doch die Kamera entdeckt, wenn sie sich Zeit nimmt, auf ihren Gesichtern zu verweilen, immer wieder Unruhe, Ungewissheit, Selbstzweifel, Traurigkeit. Thorsten Trimpop belässt es freilich nicht beim Verknüpfen asketischer Gesprächsprotokolle, sondern bringt, ja zwingt seine Protagonisten in Situationen, die wirkungsvolle Gefühlsausbrüche garantieren. Diese Methode findet sich schon am Beginn des Films, als er Susanne und Matthias in jenem tschechischen Grenzstreifen aufeinander treffen lässt, in dem damals die Flucht scheiterte. Die Atmosphäre von damals ist freilich nicht mehr rekonstruierbar: Wo sich breite Sandstreifen befanden, stehen heute längst hohe Bäume. Dafür zeigt die Kamera, wie sehr Matthias am Ort seiner Festnahme mit den Tränen kämpft. Später ist die Kamera dabei, wenn Susanne erstmals in ihrer Stasi-Akte blättert und in hysterische Lachanfälle ausbricht. Und Matthias bekommt, sinnigerweise in seiner einstigen Gefängniszelle, einen ihm bis dato unbekannten, weil nicht abgeschickten solidarischen Brief seines Vaters ausgehändigt, den er vor der Kamera laut vorliest und dabei erneut zu Tränen gerührt ist. Der psychologische Erkenntnisgewinn solcher von der Regie forcierter emotionaler Momente ist allerdings gleich Null. Zur Analyse der komplizierten Beziehungsgeflechte dreier sichtlich aus der Bahn geworfener Menschen tragen sie jedenfalls nicht bei. Weniger wäre hier mehr gewesen. Überhaupt macht die von der Kamera begleitete Rückkehr der drei Protagonisten an einstige Lebensorte nur beschränkt Sinn. Zwar erfüllt das Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen seinen dramaturgischen Zweck; unnötig ist dagegen der Streifzug Suses durch das ehemalige Institut für Lehrerbildung, das heute leer und von Verfall bedroht dasteht, oder die völlig überflüssige Szene, in der Susanne das antifaschistische Kampflied „Spaniens Himmel“ singt, das jeder DDR-Jugendliche in der Schule lernte. Wichtiger wären dagegen Informationen über die heutigen Lebensumfelder der früheren Freunde gewesen. Dass Susanne ihr Zimmer in einer WG spartanisch wie eine Zelle eingerichtet hat, erfährt man nur aus dem Pressematerial, nicht aber aus dem Film. Wenn aber solche psychologisch aufschlussreichen Tatsachen womöglich aus Gründen der Verweigerung der Protagonisten unsichtbar bleiben sollen, gibt es immer noch das Mittel des Autorenkommentars. Auf ihn zu verzichten, ist nicht in jedem Fall eine Tugend. Oder besteht im Nichtgezeigten, Nichtgesagten gerade jener „irrationale Rest“, auf den der Titel verweist?
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