Zur falschen Zeit am falschen Ort

Dokumentarfilm | Deutschland 2005 | 59 Minuten

Regie: Tamara Milosevic

Ausgehend von dem Mord an einem 17-jährigen Schüler, der 2002 von Gleichaltrigen drangsaliert, erschlagen und in einer Jauchegrube verscharrt wurde, untersucht der Dokumentarfilm soziale Hintergründe und moralische Defizite einer ganzen Gemeinschaft. Über die Figuren eines Freundes des Toten, seiner Eltern und Bekannten werden provinzielle Enge und existenzielle Bruchstellen im Gefüge des menschlichen Miteinanders transparent gemacht. Klug aufgebaut, zeigt der Film nicht den Krankheitsfall eines Einzelnen, sondern den allgemeinen Schlaf der Vernunft, aus dem Ungeheuerliches erwachsen kann. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Gambit Filmprod./Filmakademie Baden-Württemberg/SWR
Regie
Tamara Milosevic
Buch
Tamara Milosevic
Kamera
Sarah Rotter · Bettina Blümner
Schnitt
Silva von Gerlach · Thomas Wellmann
Länge
59 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
Es ist keine Seltenheit, dass sich die jungen Leute im uckermärkischen Dorf Potzlow, rund 60 Kilometer nördlich von Berlin, mit Schnaps und Bier zudröhnen. Dann wird gegrölt und geprügelt, erbärmlicher Zeitvertreib in einer Gegend, der die Arbeit verloren ging und in der das soziale Regelwerk mehr und mehr aussetzt. In der Nacht zum 13.7.2002 geschieht das Unfassbare: Zwei Brüder, Marco und Marcel, und ihr Kumpel Sebastian „feiern“ gemeinsam mit dem fast gleichaltrigen Marinus Schöberl. Irgendwann beginnen sie, auf den schüchternen, zum Stottern neigenden Jungen einzuprügeln. Gemeinsam ziehen sie in einen Schweinestall. Einer erinnert sich an den Film „American History X“ (fd 33 545), wie amerikanische Neonazis dort einen verhassten Mann in einen Bordstein beißen ließen und ihm dabei auf den Hinterkopf sprangen. Genau das praktizieren sie mit Marinus. Später verscharren sie dessen Leiche in einer Jauchegrube gleich neben dem Stall. Erst nach vier Monaten lässt einer der Täter vom Mord wissen. Lange nachdem die wie Heuschreckenschwärme über Potzlow hergefallenen Fernsehjournalisten das Dorf wieder verlassen haben, nehmen sich nun zwei Filme des Geschehens an: Andres Veiel adaptiert in „Der Kick“ sein gleichnamiges, streng stilisiertes Theaterstück, in dem er zwei Schauspieler aus Antworten der Täter und anderer Dorfbewohner zitieren lässt und so einen sozialen Panoramablick ermöglicht. Anders als dieses im Studio entstandene Werk, aber mit ähnlichen Intentionen macht sich Tamara Milosevic direkt nach Potzlow auf. Ihr wesentlicher Gesprächspartner ist ein Freund des Toten, Matthias, der als erster am Fundort der Leiche war und sie ausgrub. Das Geschehen von damals ließ ihn schwer traumatisiert zurück: Von Mitschülern als „Verräter“ gebrandmarkt, brach er die Schule ab und verschanzte sich in seinem Zimmer, immer wieder von der Frage heimgesucht, ob es, wenn er selbst „zur falschen Zeit am falschen Ort“ gewesen wäre, nicht auch ihn hätte treffen können. Tamara Milosevic, die an der Filmakademie Baden-Württemberg studierte und dort von Thomas Schadt und Helga Reidemeister betreut wurde, hat ihren Film dramaturgisch klug durchdacht. Zunächst wird das Mordgeschehen rekapituliert, wobei die kurz gefassten Erklärungsversuche des Bürgermeisters und des Vaters von Matthias sowohl auf eine große Hilflosigkeit als auch auf das Bemühen hindeuten, endlich zu vergessen: „Es ist ja nicht so, dass wir die Schuldigen sind“, sagt Matthias’ Vater, „die Schuldigen sind ja bestraft worden. Was soll man denn machen?“ Diese letzte, rhetorische Frage wird im Folgenden am Schicksal seines eigenen Sohnes exemplifiziert. Die Regisseurin befragt Matthias in seinem Kinderzimmer oder auf der Dorfstraße nach seinen Gefühlen, und man hat den Eindruck, als näherte sich ihm überhaupt jemand zum ersten Mal mit der gebotenen Sensibilität. Gegenüber der Kamera wagt Matthias, seine Tränen zu zeigen; ob er es auch gegenüber den Eltern wagen würde, bleibt offen. Der Vater jedenfalls offenbart in einigen seiner Äußerungen eine Denkweise „männlicher Härte“: „Wir waren mit ihm beim Therapeuten, und seitdem ist er auch etwas gleichgültig und mächtig verstockt, und irgendwann muss das ja auch wieder mal aufhören.“ Er selbst präsentiert sich gern als zu makabren „Späßen“ aufgelegt, so, wenn er den betrunkenen „Dorftrottel“ in voller Kleidung ins Wasser eines Sees bugsiert oder in Operationshelfer-Kleidung mit einem frisch geschärften Messer auf andere zugeht. Wenn gefeiert wird, oft gemeinsam mit Jugendlichen, stehen immer angebrochene Schnapsflaschen auf dem Campingtisch. Über den toten Marinus sagt Matthias’ Vater: „Er konnte nicht zurückschlagen, er war ruhig, zurückhaltend, der hat mit sich machen lassen, was die anderen wollten. Der hätte ins Heim gehört, nicht in die Gesellschaft.“ Genau dorthin wird schließlich der eigene Sohn gebracht: in ein Heim für betreutes Wohnen, in dem Matthias den Beruf eines Maurers erlernen kann. Erst jetzt, am Ende des Films, zitiert die Regisseurin aus einem ärztlichen Bericht, der dem Jungen eine schwere resignative Depression bescheinigt und die Notwendigkeit einfordert, ihm bei der sozialen Integration zu helfen. Dass man erst so spät mit diesem medizinischen Gutachten konfrontiert wird, macht Sinn: Tamara Milosevic interessiert sich nämlich nicht zuerst für den Krankheitsfall eines Einzelnen, sondern für den einer ganzen Gemeinschaft, für ihre moralischen Defizite und geistigen Leerstellen, die provinzielle Enge und die knappen Möglichkeiten, ihr zu entfliehen. Es geht um den Schlaf der Vernunft und die daraus entstehenden Ungeheuer. Das Tier im Menschen und die Bedingungen, die es braucht, um aus ihm herauszubrechen. Dass der Film dabei keine flotten Erklärungen anbietet, spricht für ihn und seine Regisseurin.
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